Der Sturz aus dem Fenster
beispielsweise bei Cecelia Adams, auf völlig verschiedenen Ansichten beruhte, sondern auf rein chemischer Reaktion. Wenn man Öl und Essig in eine Schüssel gibt, dann fliehen sie in entgegengesetzte Richtungen auseinander. Genau diese Neigung verspürte Kate jetzt in ihrem Büro, und die Vorstellung, daß ihr die Rolle des Öls zukam, gefiel ihr ganz und gar nicht. Dr. Anthony sprach, ehe Kate es konnte.
»Ich weiß nicht, ob Ihnen das Prinzip des Ausagierens bekannt ist«, begann sie. »Wir alle haben Mordphantasien. Glücklicherweise bindet das Über-Ich unsere derart gerichteten Wünsche. Wahrscheinlich haben alle Väter zum einen oder anderen Zeitpunkt sexuelle Wünsche ihren Töchtern gegenüber, aber nur wenige agieren diese Wünsche aus.«
»Und doch tun es mehr, als man früher glaubte oder als Freud zugeben wollte«, sagte Kate und verfluchte sich im nächsten Moment dafür. Mit einer orthodoxen Freudianerin über die heiligen Schriften der Psychoanalyse zu streiten, hatte keinen Sinn. Du a-gierst etwas aus, mahnte sich Kate. Halt lieber den Mund! Die Er-mahnung blieb ungehört. Kates Über-Ich war in ernsten Schwierigkeiten.
»Ich bin nicht hergekommen, um über das statistische Vorkom-men von Inzest zu diskutieren«, verkündete Dr. Anthony. »Wenn ich recht verstehe, wollen Sie mir Fragen über den Tod meines Schwie-121
gervaters stellen. Von den Phantasien sprach ich nur, weil ich dachte, daß Sie sie vielleicht bei Ihrer Ermittlung in Betracht ziehen sollten.«
Sie bot ein Lächeln dar, das Kate so überzeugend erschien wie das eines Folterers in einem Spionagefilm. Schon wieder ist es mir passiert – sagte sie zu sich selbst –, ein Drama! Dabei bin ich nicht einmal fair dieser Frau gegenüber, die sich die Zeit genommen hat, mit mir zu reden.
»Ich glaube, Sie werden mir zustimmen«, sagte Dr. Anthony,
»daß außer bei Psychotikern mit Wahnphantasien Mordhandlungen ihre Wurzeln in Kindheitsereignissen haben, die verdrängt wurden oder an die nur Deckerinnerungen vorhanden sind. Mein Gedanke war« – und dieses Mal war ihr Lächeln echt –, »daß die Berücksich-tigung der menschlichen Psyche Ihnen Ihren Job vielleicht erleich-tern könnte. Offen gesagt, was Larry mir davon erzählte, hörte sich geradezu phantastisch an: Ich meine Ihre Detektivspielerei.«
Ihr Lächeln hätte ein bißchen freundlicher sein können, dachte Kate; aber was Dr. Anthony von Kates Psyche hielt, darüber wollte Kate nicht nachgrübeln noch sie befragen. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«
»Nicht das geringste«, sagte Dr. Anthony. »Deshalb bin ich ja hier. Ich habe allerdings wenig Zeit…«
»Ich werde mir Mühe geben, sie nicht zu vertrödeln«, sagte Kate und schaffte es nur mit größter Mühe, nicht sarkastisch zu klingen.
Sie holte tief Luft.
»Ich habe Professor Adams’ Witwe kennengelernt«, sagte Kate und erinnerte sich jetzt, daß sie einmal den Wunsch gehabt hatte, diese Frau Clem zu nennen, »und ich kann verstehen, daß Professor Adams’ Söhne und deren Frauen nicht… nun, besonders begeistert von ihr waren.«
»Nicht besonders begeistert ist gut!« sagte Dr. Anthony. »Das nenne ich das Understatement des Jahrhunderts. Dieser Frau fehlt jegliches Über-Ich. Sie ist der lebende Beweis für Freuds Ansicht einer mangelnden moralischen Entwicklung bei Frauen, finde ich.
Ich wäre sogar versucht zu sagen, dieser Frau fehle jeglicher Verstand, wenn das nicht auch mangelnde Klugheit und Schläue nahelegte, welche sie ja zweifellos besitzt.«
»Die kann man in der Tat nicht bestreiten.«
Wieder lächelte Dr. Anthony, diesmal noch besser. Mein Gott, dachte Kate, Psychoanalytikerin hin, Psychoanalytikerin her, sie ist genauso nervös wie ich. Und klug, wie sie ist, hat sie gleich erkannt, 122
daß ich mich weder von autoritärem Gebaren noch von beeindru-ckendem Vokabular einschüchtern lasse.
»Was hatten Sie sich denn unter mir vorgestellt, wenn Sie mir die Frage nicht verübeln?« sagte Kate. »Eine akademische Version der Witwe? Oder vielleicht eine gealterte Pfadfinderin? Oder hatten Sie gedacht, ich sei die Sorte Literaturprofessorin, die nichts anderes im Sinn hat, als sich die tausendste Lösung zum Rätsel Edwin Droods auszudenken?«
»Was immer ich gedacht habe, mich als die ›böse Mutter‹ aufzuführen, war wahrscheinlich keine gute Idee, das sehe ich. Aber trotzdem, viel Zeit habe ich nicht.«
Kate seufzte erleichtert und erwartungsvoll.
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