Der Sturz - Erzählungen
fallen«, und er sagte: »Der Bauer schwängert die Magd und der Knecht die Bäuerin.« Dann kam er auf den Ernst der Lage zu sprechen, wohlweislich nicht auf den Ernst der innenpolitischen Lage –
als Minister der Schwerindustrie war er zu sehr in sie verstrickt
–, sondern auf jenen der außenpolitischen Lage, wo er eine
»tödliche Gefahr für unser liebes Vaterland« aufziehen sah –
um so verblüffender, als nach der Friedenskonferenz die äußere Politik entspannter war als sonst. Der internationale Großkapi-talismus stünde wieder einmal bereit, die Revolution um ihre 31
Früchte zu bringen, und es sei ihnen schon gelungen, das Land mit ihren Agenten zu durchsetzen. Von der Außenpolitik ging er auf die Notwendigkeit der Disziplin über, aus der Notwendigkeit der Disziplin folgerte er die Notwendigkeit des Vertrauens. »Genossen, wir sind alle Brüder, Kinder der einen, großen Revolution!« Dann behauptete er, dieses notwendige Vertrauen sei ohne Notwendigkeit von L verletzt worden, der an A’s Worten gezweifelt habe, indem er, entgegen der Versi-cherung A’s, zu glauben vorgebe, der erkrankte O sei verhaftet, ja das Mißtrauen des Transportministers, »dieses Denkmals, das schon lange ein Schandmal geworden sei«, gehe so weit, daß er nicht einmal das Sitzungszimmer zu verlassen wage, um seiner sterbenden Frau beizustehen, eine Unmenschlichkeit, die jeden Revolutionär, dem die Ehe noch heilig sei – und wem sei sie nicht heilig –, entsetzen müsse. Ein solcher Verdacht beleidige nicht nur A, er schlage auch dem Politischen Sekretariat ins Gesicht (N überlegte: A hatte nichts von O’s angeblicher Krankheit gesagt. Diese Lüge stammte vom Sicherheitsminister C, indem F die Lüge A zuschob, legte er A fest, ein weiterer Fehler, der bloß aus der erbärmlichen Furcht des Ministers für Schwerindustrie zu erklären war – doch hatte hier N im gleichen Augenblick den Verdacht, vielleicht sei O’s Krankheit die Wahrheit und dessen Verhaftung eine Lüge, ausgestreut, um das Politische Sekretariat zu verwirren, einen Verdacht, den N jedoch, auch im gleichen Augenblick, wieder fallenließ.) Der Schuhputzer unterdessen, unbesonnen, ließ sich vom Versuch, sich in Sicherheit zu bringen, hinreißen, nun auch seinen alten Feind D anzugreifen, wohl, weil er glaubte, zusammen mit dem Transportminister L müsse der Parteisekretär D automatisch fallen, ohne zu bedenken, daß der Transportminister politisch längst von allen abgeschrieben worden war, D sich dagegen in einer Stellung befand, aus der man ihn nicht entfernen konnte, ohne die Partei und den Staat schwer zu erschüttern. Aber diese Erschütterung war offenbar für F schon 32
eine Tatsache, sonst wäre ihm aufgefallen, daß sich während seiner Attacke sogar der Verteidigungsminister H still verhielt und ihn nicht unterstützte. Der Schuhputzer schrie, wenn die Bauern hungerten, mäste sich der Pfarrer, schrie, wenn der Junker kalte Füße habe, brenne er ein Dorf nieder, behauptete, D verrate die Revolution, indem er sie einschlafen lasse, und habe die Partei in einen bürgerlichen Verein verwandelt. In seinem verzweifelten Übermut ging F noch weiter. Er griff nach D auch dessen Verbündete an, machte sich über die Erziehungsministerin lustig, als Jungfrau gehe man ins Haus eines Pferdehändlers und als Hure komme man wieder heraus, sei ein altes Bauernsprichwort, und für den Außenminister B
gelte, wer sich mit einem räudigen Wolf befreunde, werde selber ein räudiger Wolf; doch wurde F, bevor er ein weiteres Bauernsprichwort zitieren konnte und bevor er dazu kam, seine Anschuldigungen zu präzisieren, vom Oberst unterbrochen.
Der blonde Offizier betrat zur allgemeinen Verblüffung zum zweitenmal das Sitzungszimmer, salutierte, überreichte dem Minister für die Schwerindustrie einen Zettel, salutierte aufs neue stramm und verließ das Sitzungszimmer.
F, überrascht durch den Unterbruch und eingeschüchtert durch das militärische Schauspiel, wurde unsicher, überflog den Zettel, knüllte ihn zusammen, steckte ihn in die rechte Seiten-tasche, murmelte, er habe es nicht so gemeint, setzte sich, von einem jähen Mißtrauen erfaßt, wie N spürte, und schwieg. Die ändern rührten sich nicht. Das erneute Erscheinen des Obersts war zu ungewöhnlich gewesen. Es schien inszeniert zu sein.
Der Zwischenfall war bedrohlich. Nur M, die F während seiner Rede scharf gemustert hatte, tat, als ob nichts geschehen wäre.
Sie öffnete ihre
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