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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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aufs Spiel gesetzt und zeigte zur Überraschung aller Charakter. Er mußte kämpfen und war der natürliche Verbündete des Transportministers geworden, der es jedoch in seiner Apathie nicht realisierte.
    »Wer sich der Revolution entgegenstellt, wird vernichtet«, verkündete A, »alle sind vernichtet worden, die es versuchten.«
    Ob sie es wirklich versucht hätten, fragte der Schuhputzer unbeirrbar, das glaube A selber nicht. Die Männer, die er aufgezählt habe und die umgekommen seien, hätten die Partei gegründet und die Revolution durchgeführt. Sie hätten in vielem geirrt, gewiß, aber Verräter seien sie nicht gewesen, ebensowenig, wie jetzt der Transportminister ein Verräter sei.
    Sie hätten gestanden und seien durch die Gerichte verurteilt worden, entgegnete A. »Gestanden!« lachte F, »gestanden!
    Wie haben sie gestanden. Darüber soll uns einmal der Chef der Geheimpolizei etwas erzählen!« A wurde bösartig. Die Revolution sei ein blutiges Geschäft, entgegnete er, es gebe Schuldige auch auf ihrer Seite und wehe den Schuldigen. Wer an dieser Erkenntnis rüttle, sei an sich schon ein Verräter. Im übrigen, höhnte er, sei es sinnlos, zu diskutieren, dem Schuhputzer seien offenbar die schweinischen Schriften in den Kopf gestiegen, die er unter seinen Kollegen verteile, indem er offensichtlich die Partei für ein Bordell halte, und A müsse F’s Freund, den Chefideologen G, doch sehr bitten, sich zu überlegen, mit wem er verkehre. Mit dieser impulsiven und unnötigen Drohung dem Teeheiligen gegenüber – möglicherweise aus Ärger, daß es der Chefideologe auch nicht gewagt hatte, den Raum zu 38

    verlassen – nahm A wieder seinen Platz ein. Jene, die noch standen, setzten sich ebenfalls, G als letzter. Er eröffne die Sitzung von neuem, sagte A.

    Der Teeheilige rächte sich unverzüglich. Vielleicht, weil er glaubte, mit F zusammen in Ungnade gefallen zu sein, vielleicht auch nur, weil ihn die unvorsichtige Rüge A’s beleidigte.
    Wie viele Kritiker, vertrug er keine Kritik. Schon als Gymnasiallehrer veröffentlichte der Teeheilige in unbedeutenden Provinzblättern literarische Kritiken von einer derartigen parteitreuen Penetranz, daß ihn A, der die meisten Schriftsteller des Landes als bürgerliche Intelligenzler verachtete, zu Beginn der zweiten großen Säuberung in die Hauptstadt beorderte, wo G die kulturelle Redaktion des Regierungsblattes übernahm und in kurzer Zeit mit immensem Bienenfleiß Literatur und Theater des Landes zugrunde richtete, indem er nach dem Schema der Ideologie die Klassiker für gesund und positiv, die Schriftsteller der Gegenwart für krank und negativ erklärte: so primitiv der Grundgedanke seiner Kritik auch war, die Form, in der er sie darbot, war intellektuell und logisch, der Teeheilige schrieb vertrackter als seine literarischen und politischen Gegner. Er war allgewaltig. Wen G verriß, war erledigt, kam nicht selten hinter Stacheldraht oder verschwand. Persönlich war G von einer nicht zu übertreffenden Biederkeit. Er war glücklich verheiratet, wie er jedem unter die Nase rieb, Vater von acht, in regelmäßigen Abständen gezeugten Söhnen. Er war in der Partei verhaßt, aber der große Praktiker A, der sich gern als Theoretiker gab, schanzte dem Mittelschullehrer eine noch mächtigere Stellung zu. Er machte ihn zum ideologischen Beichtvater der Partei, und so war man denn im Politischen Sekretariat G’s weitschweifigen Vorträgen wehrlos ausgesetzt, wenn auch einige darüber offen spotteten, wie etwa B, der einmal nach einer besonders langen Rede des Teeheiligen zur Außenpolitik meinte, der Chefideologe habe zwar dafür zu 39

    sorgen, daß die Beschlüsse des Sekretariats nach außenhin politisch stubenrein begründet würden, aber könne nicht verlangen, daß diese Begründung vom Sekretariat auch noch geglaubt werden müsse. Doch tat man gut, G nicht zu unterschätzen. Der Teeheilige war ein Machtmensch, der seine einmal errungene Position mit seinen Mitteln verteidigte, wie es jetzt A erfahren mußte, denn G verlangte als erster das Wort.
    Er dankte A für seine Ausführungen zu Beginn der Sitzung, die den großen Staatsmann verrieten. Seine Analyse über den Stand der Revolution und den Zustand des Staates sei meister-haft gewesen und seine Folgerung zwingend, in diesem Zeit-punkt der Entwicklung das Politische Sekretariat aufzulösen.
    Als Ideologe habe G nur eine Bemerkung zu machen. Wie A gezeigt habe, stehe man einem gewissen Konflikt

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