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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Mißtrauen haben. Den Parteikongreß einzuberufen, brauchte Zeit, während dieser Zeit blieben die Mitglieder des Politischen Sekretariats mächtig und konnten handeln. So mußte auch A handeln. Er mußte aufs neue sondieren, auf wen er zählen konnte oder nicht, und dann kämpfen. A’s souveräne Menschenverachtung hatte nicht nur die Fronten durcheinander gebracht. Aus einem Geplänkel drohte unvermutet eine Ent-scheidungsschlacht zu werden.

    Vorerst geschah nichts. Niemand handelte. F blieb sitzen, der Transportminister ebenfalls, das Gesicht in die Hände vergra-ben. N hätte sich gerne den Schweiß von der Stirne gewischt, doch wagte er es nicht. Neben ihm hatte P die Hände gefaltet.
    Es schien, als betete er, mit heiler Haut davonzukommen, wenn es auch unwahrscheinlich war, daß ein Mitglied des Politischen Sekretariats überhaupt betete. Der Außenhandelsminister E
    zündete sich eine seiner amerikanischen Zigaretten an. Der Verteidigungsminister H erhob sich, fand, leicht torkelnd, auf dem Buffet eine Flasche Gin, pflanzte sich neben A und B auf, prostete feierlich A zu: »Es lebe die Revolution« und bekam den Schluckauf, ohne in seiner Benommenheit zu beachten, daß A ihn nicht beachtete. M entnahm ihrer Handtasche ein goldenes Zigarettenetui, D ging zu ihr, hielt ihr sein goldenes Feuerzeug hin, blieb hinter ihr stehen. »Nun, ihr zwei«, fragte A gemächlich, »schlaft ihr eigentlich miteinander?« – »Früher schliefen wir miteinander«, antwortete D unverfroren. A lachte, es sei immer gut, wenn seine Mitarbeiter sich verstünden, dann wandte er sich F zu. »Los, Schuhputzer«, kommandierte er,
    »los, Arschlecker, telefonieren!« F blieb sitzen. »Nicht drau-
    ßen«, sagte er leise. A lachte aufs neue. Es war immer das gleiche langsame, fast gemütliche Lachen, das man von ihm vernahm, gleichgültig, ob er scherzte oder drohte, so daß man 36

    nie wußte, wie er es meinte. Er glaube wirklich, der Kerl habe Schiß, bemerkte er. »Stimmt«, antwortete F, »ich habe Schiß, ich fürchte mich.« Alle starrten F schweigend an, es war ungeheuerlich, seine Furcht zuzugeben. »Wir fürchten uns alle«, fuhr der Minister für die Schwerindustrie fort und blickte A ruhig an, »nicht nur ich und der Transportminister, alle.«
    »Unsinn«, entgegnete der Chefideologe G, erhob sich und ging zum Fenster. »Unsinn, purer Unsinn«, sagte er aufs neue mit dem Rücken gegen die anderen gekehrt. »Dann verlaß das Zimmer«, forderte ihn F auf. Der Chefideologe wandte sich um und starrte F mißtrauisch an. Was er draußen solle, fragte er.
    Der Chefideologe wage es auch nicht, hinauszugehen, stellte F
    gelassen fest. G wisse genau, daß er nur hier sicher sei. »Unsinn«, entgegnete G wieder, »Unsinn, purer Unsinn.« F blieb hartnäckig: »Dann geh hinaus«, forderte er den Teeheiligen aufs neue auf. G blieb am Fenster stehen. F wandte sich wieder A zu: »Siehst du, wir alle haben Schiß.« Er saß aufrecht in seinem Sessel, die Hände auf den Tisch gelegt, und alles Häßliche war von ihm gewichen. F sei ein Narr, sagte A, stellte das Kognakglas auf das Buffet zurück, kam zum Tisch. »Ein Narr«, antwortete F, »wirklich? Bist du so sicher?« Er sprach leise, was er sonst nie tat. Außer L befänden sich keine alten Revolutionäre mehr im Politischen Sekretariat, sagte er, wo sie geblieben seien? Dann zählte er die Namen der Liquidierten auf, sorgfältig, langsam, vergaß auch nicht die Vornamen, nannte Männer, die einmal berühmt gewesen waren, die die alte Ordnung gestürzt hatten. Es war seit langem zum ersten Mal, daß diese Namen wieder genannt wurden. N fröstelte. Er kam sich auf einmal wie auf einem Friedhof vor. »Verräter«, schrie A, »das waren Verräter, das weißt du genau, verdammter Arschlecker.« Er schwieg, wurde wieder ruhig, musterte den Schuhputzer nachdenklich. »Und du bist auch so ein Schwein«, sagte er daraufhin nebenbei. N wußte sofort, daß A einen weiteren Fehler begangen hatte. Natürlich war es eine Provoka-37

    tion gewesen, die Namen der alten Revolutionäre zu nennen, doch F war durch das Eingeständnis seiner Furcht ein Gegner geworden, den A hätte ernst nehmen sollen. Statt dessen ließ sich A hinreißen, ihn zu bedrohen, statt zu beruhigen. Ein freundliches Wort, ein Scherz hätte F zur Vernunft gebracht, doch A verachtete F, und weil er ihn verachtete, sah er keine Gefahr und wurde leichtsinnig. F dagegen konnte nicht mehr zurück. In seiner Verzweiflung hatte er alles

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