Der Sturz - Erzählungen
Stein sind, und hat auf einmal das Gefühl, daß Abu Chanifa den Abschied nicht mehr wahrnimmt, daß dieser das Gefühl für jede Veränderung verloren hat, stolpert darauf verwirrt durch dunkle Gänge, von einer dumpfen Furcht vor der Freiheit ergriffen, erklimmt Leitern, die an naßen Mauern entlang in weitere Gefängnisse hinaufführen, irrt durch immer neue Gänge und gelangt zu steilen Treppen, bis er sich plötzlich im grellen Sonnenlicht in einem Hof befindet, blinzelnd, alt, unsäglich schmutzig, in Lumpen. Wie erlöst sieht er, daß die eine Hälfte des Hofes im Schatten liegt, schließt die Augen, tastet sich zur Mauer, läßt sich an ihr nieder. Ein Wärter oder ein Gefängnisbeamter findet ihn, fragt ihn aus, versteht nichts, schließt ihm kopfschüttelnd das Gefängnistor auf. Der Alte will seinen Platz an der Mauer nicht verlassen, der Wärter (oder der Gefängnisbeamte) droht, Gewalt anzuwenden, der Alte muß gehorchen: Die endlose Wanderung Anan ben Davids durch die Welt beginnt, unfreiwillig, denn kaum vor dem Gefängnistor, kaum unter Menschen, wird er von allen angestarrt; er ist anders als sie geklei-det, in zerrissenen, verschmutzten Lumpen zwar, aber doch in einer altertümlichen Kleidung. Auch sein Arabisch klingt anders; als er nach einer bestimmten Gasse fragt, versteht man ihn nicht, außerdem gibt es diese Gasse nicht mehr, die Stadt hat sich verändert; dunkel erinnert er sich, einige Moscheen schon einmal gesehen zu haben. Er sucht die jüdische Gemeinde auf, meldet sich beim Rabbiner, einem berühmten Talmudkenner. Auch hier hat man Mühe, den Alten zu verstehen, aber man läßt ihn vor den heiligen Mann, der das arabisch geschrie-bene Buch des berühmten Rabbi Saadia ben Joseph studiert:
›Die Widerlegung des Anan‹. Das eisgraue uralte Männchen umklammert die Knie des großen Talmudisten, nennt seinen Namen. Der Rabbi stutzt, fragt noch einmal, wird streng, entweder sei Anan ben David ein Narr oder ein Betrüger, der echte Rabbi Anan sei schon vor fast fünfhundert Jahren gestor-62
ben und ein Ketzer gewesen, von persischen Geheimlehren verseucht, er solle sich davontrollen. Dann wendet er sich wieder seinem Buche zu. Anan ben Davids uraltes Gesicht verfärbt sich: Ob er denn immer noch an den Talmud glaube, fragt er den Rabbi, an dieses erbärmliche Menschenwerk? Nun richtet sich der berühmte Talmudkenner auf, ein Riese von Gestalt, mit einem wilden pechschwarzen Bart, nicht umsonst nennt ihn die Gemeinde ›Heiliger Koloß‹. »Weiche von mir, du jämmerlicher Geist Anan ben Davids!«, donnert er, »du längst verfaulter! Laß ab von mir und von meiner Gemeinde. Du hast uns ins Unglück geführt, als du noch lebtest, und so seist du nun verflucht als schon längst Verscharrter!« Entsetzt stürzt Anan ben David aus dem Haus des Heiligen, die Flüche des Juden gellen ihm nach. Er irrt ziellos durch die Straßen und Plätze der Riesenstadt. Gassenjungen bewerfen ihn mit Steinen, Hunde schnappen nach ihm, ein Betrunkener schlägt ihn zu Boden. Er weiß sich keinen anderen Rat mehr, als sich wieder am Gefängnistor zu melden, das er mit großer Mühe findet. Verwundert wird ihm das Tor aufgeschlossen, aber niemand erinnert sich seiner, der Gefängnisbeamte (oder der Wärter), der ihn entlassen hatte, ist nicht aufzutreiben. Der alte Jude berichtet von Abu Chanifa, niemand hat je von einem solchen Gefangenen gehört. Ein junger Subdirektor in der Leitung aller Gefängnisse der Stadt nimmt sich, historisch interessiert, des alten Juden an. Abu Chanifa ist für ihn ein vager Begriff, wenn es sich wohl auch um eine Verwechslung des Juden handelt, aber irgend etwas Wahres muß sich hinter der Geschichte verbergen. Er weist dem Alten eine Zelle im neuen Gefängniskomplex an, eigentlich für vermögende Untersuchungsgefangene bestimmt, mit Aussicht auf die Harun-al-Raschid-Moschee, läßt ihn verpflegen und neu einkleiden. Der Subdirektor wundert sich selbst über seine Großzügigkeit. Er forscht in alten Verzeichnissen, besichtigt alte Pläne, aber nichts läßt darauf schließen, daß unter all den 63
Gefängnisbauten sich noch ein Gefängnis befinde, das Urge-fängnis sozusagen. Der Subdirektor läßt alte Wärter zu sich kommen, auch uralte, die sich schon längst im Ruhestand befinden, niemand hat je von einem Sabier als Wärter gehört.
Sicher, niemand kennt das ganze Gefängnis, zugegeben, die Pläne sind unvollständig, aber irgendeine Spur müßte immer-hin vorhanden sein,
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