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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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wäre am Bericht des alten Juden etwas Wahres. Das sieht denn der Subdirektor schließlich ein, be-trübt, denn irgendwie glaubt er dem Juden, fühlt sich ihm verpflichtet, seltsam, er gibt es zu, fühlt sich wie willenlos, spricht mit dem Direktor, ob man dem Alten nicht eine Zelle zur Verfügung stellen könne, am besten die Zelle, in der er schon haust, mit der Aussicht auf die Moschee. Das sei leider ausgeschlossen, der Direktor ist leicht indigniert über seinen Subdirektor, dieser könne doch nicht im Ernst annehmen, daß zwischen dem alten Juden und dem seit Jahrhunderten verstor-benen Abu Chanifa ein Zusammenhang bestehe. Er sei Ge-fängnisdirektor und kein Irrenhausleiter, der Subdirektor solle den Juden in ein solches einweisen. Aber Anan ben David ist verschwunden, als dieser Entscheid gefällt wird. Niemand weiß zu sagen, wie er seine Zelle verlassen konnte, vielleicht war sie auch verschlossen, vielleicht fand ein Wärter den Juden tot auf seiner Pritsche und ließ die Leiche wegschaffen, ohne den unbedeutenden Vorfall zu melden. Als aber fünfzehn Jahre später Hülägu, ein Enkel Dschingis-Khans, die Stadt mit ihren Moscheen, Krankenhäusern und Bibliotheken niederbrennt, achthunderttausend Einwohner niedermetzelt und den schrift-stellernden al-Mustasim ibn az-Zahir, einen Abbasiden von einer beispielhaften Sanftheit, in einen Teppich gerollt zu Tode schütteln läßt, um, abergläubisch wie der Mongole ist, nicht den Boden des Abbasidenreiches, das er erobert hat, mit dem Blut des letzten Kalifen zu erzürnen, sieht ein Panzerreiter aus einer eingeäscherten Synagoge einen kleinen gebückten, uralten Juden entweichen und schickt ihm, verwundert, daß da 64

    noch jemand lebt, einen Pfeil nach, ohne schwören zu können, im Ungewissen rauchigen Licht getroffen zu haben. Zweihundert Jahre später spricht in Granada ein unscheinbarer Jude unbestimmbaren Alters den Vorsteher der jüdischen Gemeinde an, er ist kaum zu verstehen, endlich begreift der Vorsteher, der Alte wolle mit Rabbi Moses ben Maimon diskutieren, und antwortet freundlich, der ›Rambam‹ sei schon vor fast dreihun-dert Jahren in Kairo gestorben, worauf sich der Fremde erschrocken zurückzieht. Unter den ersten Jahren Karls V. als spanischer König fällt ein jüdischer Greis in die Hände der Inquisition, er wird als Kuriosum dem Großinquisitor vorgeführt. Der Jude beantwortet keine Fragen, ob er stumm ist oder nicht, ist nicht auszumachen. Der Großinquisitor schweigt lange, starrt den Juden an, wie andächtig, macht eine unbestimmte Handbewegung, läßt ihn laufen als ohnehin dem Tode verfallen. Ob es sich in all diesen Berichten um Anan ben David handelt, wissen wir nicht, sicher ist nur, daß er durch die Welt irrt, ohne sich je wieder zu erkennen zu geben, daß er seinen Namen verschweigt. Er wandert von einem Land zum anderen, von einer Judengemeinde zur anderen und sagt kein Wort mehr. In den Synagogen hüllt er sich in einen alten zerschlissenen Gebetsmantel, so daß man den Uralten, wie der Großinquisitor, für taubstumm hält. Bald taucht er in diesem, bald in jenem Getto auf, kauert bald in diesem, bald in jenem Lehrhaus. Keiner kümmert sich um ihn, er ist eben der alte taubstumme Jude, der von irgendwoher gekommen ist, dem man das Notwendigste zuschiebt, den zwar jede Generation kennt, aber immer für jemand anderen hält, der einem anderen uralten, taubstummen Juden gleicht, den angeblich die ältere Generation gekannt haben soll. Er ist auch eigentlich so gut wie nichts, ein Schatten bloß, eine Erinnerung, eine Legende; was er braucht, etwas Brot, etwas Wasser, etwas Wein, etwas Schnaps, je nachdem, er nippt ja nur, starrt mit seinen großen Augen ins Leere, nickt nicht einmal zum Dank. Wahrscheinlich 65

    verblödet, altersschwach. Es ist ihm auch gleichgültig, was man von ihm denkt, gleichgültig, wo er sich befindet, die Verfolgungen, die Pogrome berühren ihn nicht, er ist nun so alt, daß sich auch niemand mehr von den Feinden seines Volkes gegen ihn wendet; der Großinquisitor war der letzte, der ihn beachtete. Anan ben David ist längst in Osteuropa untergetaucht, im Lehrhaus des großen Maggids von Mesritsch heizt er während Jahren im Winter den Ofen, wohl eine chassi-dische Sage; wo er sich sommers über aufhält, weiß niemand zu berichten. Im zweiten Weltkrieg endlich holt ihn ein Nazi-arzt aus einer langen Schlange nackter Juden, die sich einer der Gaskammern von Auschwitz zuwälzen; er hat mit dem

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