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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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verrosteten zusammenge-flickten Volkswagenbus. Das heißt, in Istanbul ist der Schweizer noch nicht eigentlich betrunken, nur angesäuselt, aber dann durch Anatolien hindurch von Station zu Station berauschter, offenbar versucht er, in seinem Kleinbus Whisky zu schmug-geln, um sich Geld für seine Eisenplastiken zusammenzuver-dienen, nicht ohne Geschick offenbar, wobei freilich der Whisky sich bedenklich vermindert und damit der Gewinn: Bei jedem Grenzposten, bei jeder Polizeistation, bei jeder Kontrolle zeigt er großzügig den Whisky vor, und ein unendliches Fest beginnt, mit dem Erfolg, daß die Grenzposten, die Polizeista-tionen und Kontrollen noch betrunkener sind als der Schweizer. Anan ben David hatte jedesmal bezeugt, indem er, wie immer sich stumm stellend, den Kopf schüttelte, daß der Whisky im Koran nicht verboten ist; dazu hat ihn der Schweizer auch mitgenommen, in der Meinung, das uralte Wesen sei ein Moslem, ein Zusammenhang, auf den Anan ben David, in Jahwe versenkt und in Erwartung seines Wiedertreffens mit 68

    ihm, nicht kommt. In Bagdad aber, ohne daß Anan ben David freilich weiß, daß er in Bagdad ist, glaubt er doch in Argentini-en oder in Wladiwostok zu sein, so sehr sind ihm die Kontinen-te und die Erinnerungen durcheinandergeraten nach jahrhun-dertelangem Irren, in Bagdad aber saust der Schweizer in eine Verkehrsinsel, mit über hundertzwanzig Sachen auf dem Gashebel, wo man doch nur sechzig – die Verkehrsinsel, Verkehrspolizist, Bildhauer und Kleinbus stehen lichterloh in Benzin- und Whiskyflammen, alles explodiert, verpufft in einer gelben Rauchsäule Old Smuggler, samt einer der größten Kunsthoffnungen Helvetiens. Nur Anan ben David verschwindet in der Menschenmenge, die sich zusammenstaut, die tutenden Polizei- und Sanitätswagen am Herankommen hindert: Vom Schweizer ist nur noch eine schwörende Hand übrig, auf was sie schwor, ist nicht mehr auszumachen. Anan ben David eilt Luxusgeschäften entlang, biegt um ein Hochhaus, als er bemerkt, daß er von einem weißen Hund verfolgt wird.
    Der Hund ist hochbeinig und nackt, seine Haare sind ihm ausgefallen. Anan ben David flieht in eine Seitengasse, die Häuser sind uralt oder scheinen uralt, so verwahrlost sind sie, obgleich doch das Hochhaus ganz in der Nähe sein muß, auch wenn es nicht mehr sichtbar ist. Anan ben David erblickt den Hund nicht mehr, aber er weiß, daß dieser ihm folgt. Er öffnet die Tür eines alten baufälligen Hauses, betritt einen Hof voller Schutt, über den er klettert, im Boden findet er eine Öffnung, halb ein Brunnenschacht, halb eine Höhle. Eine Ratte starrt ihn bösartig an, verschwindet, in der Haustür erscheint der weiße nackte Hund, bleckt die Zähne. Anan ben David steigt in die Höhle hinab, ertastet Stufen, steigt hinunter, befindet sich in endlosen Gängen, die Finsternis ist vollkommen, aber er geht weiter. Er weiß, daß der nackte weiße Hund ihm nachschleicht, daß ihn die Ratten erwarten. Plötzlich fühlt er sich heimatlich, zu Hause, er bleibt stehen. Er weiß, ohne es zu sehen, daß vor ihm ein Abgrund ist, bückt sich, seine Hände sind im Leeren, 69

    fassen eine Leiter, er steigt hinab, furchtlos, gelangt auf festen Boden, ein neuer Abgrund, wieder tasten seine Hände im Nichts, wieder ist auf einmal eine neue Leiter da. Er steigt hinunter, die Leiter schwankt, oben kläfft der Hund. Jetzt weiß er den Weg, geht durch die niedrigen Gänge, findet die niedrige eiserne Türe, die Querbalken sind verfault, die Tür zerfällt in Staub, wie er sie berührt, so sehr ist sie verrostet, er kriecht in das gelobte Land: in seine Zelle, in sein Verlies, in sein Gefängnis, in seinen Kerker, in welchem er mit Jahwe geredet hat, an die unbehauenen rohen Quader, den feuchten Boden. Er läßt sich nieder. Ein unendlicher Friede senkt sich auf ihn, der Friede seines Gottes, der Friede Jahwes. Doch plötzlich schlie-
    ßen sich zwei Hände um seinen Hals. Abu Chanifa fällt ihn an, als sei Anan ben David ein wildes Tier, eine Bestie, die in sein, Abu Chanifas Reich gedrungen ist, das doch Allah gehört, und Abu Chanifa ist nur von der heiligen Pflicht beseelt, diesen Eindringling, der seine Freiheit bedroht, zu töten: denn seine Freiheit besteht nicht bloß darin, daß dieses erbärmliche Verlies sein Verlies ist, Abu Chanifas Verlies, sondern daß es von Allah als sein, Abu Chanifas Verlies geschaffen worden ist, während sich Anan ben David mit der gleichen Wut verteidigt: Der, welcher ihn

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