Der Sturz - Erzählungen
kleinen Greis einige Experimente vor, friert ihn ein, fünf, zehn, fünfzehn Stunden minus hundert Grad, zwei Wochen, zwei Mona-te, der Jude lebt noch immer, denkt an irgend etwas, ist eigentlich nie da; der Arzt gibt es auf. Zurückschicken mag er ihn auch nicht, er läßt ihn in Ruhe, hin und wieder befiehlt er ihm, das Laboratorium zu säubern. Plötzlich ist der Jude verschwunden, und schon hat ihn der Nazi vergessen. Aber indem die Jahrhunderte versinken, werden für Anan ben David die Jahrhunderte, die er mit Abu Chanifa im Gefängnis zugebracht hat, in diesem elenden Verlies in Bagdad, immer bedeutender, gewaltiger, strahlender. Zwar hat er Abu Chanifa längst vergessen, er bildet sich ein, allein im finsteren Kerker gewesen zu sein, in den ihn al-Mansur hatte werfen lassen (auch an dessen Namen erinnert er sich nicht mehr), aber es scheint ihm nun, als habe er während all den endlosen Jahren mit Jahwe geredet, und nicht nur geredet, als habe er seinen Atem gespürt, ja sein unermeßliches Antlitz gesehen, so daß dieses erbärmliche Loch, das ihn gefangengehalten hatte, ihm immer mehr als das gelobte Land vorkommt und sich sein ganzes Denken, wie das Licht in einem Brennpunkt, auf diesen einen Ort konzentriert und zur übermächtigen Sehnsucht wird, dahin zurückzukehren, zurück an diesen heiligen Ort, ja, daß er nur noch lebt, weil 66
diese Sehnsucht der Rückkehr in ihm ist und nichts anderes mehr, wobei er freilich längst vergessen hat, wo sich dieser heilige Ort nun eigentlich befindet, so wie er Abu Chanifa vergessen hat: Dieser indessen, immer noch in seinem Verlies kauernd, von den von Zeit zu Zeit herabfallenden Wassertrop-fen zu einer Art Stalagmit geworden, mit einem Funken Leben, hat Anan ben David ebenfalls seit Jahrhunderten vergessen, so wie auch der alte Sabier Abu Chanifa vergessen hat; er ist immer seltener gekommen und schließlich ganz ausgeblieben.
Vielleicht daß der einäugige, verrostete Götze ihn erschlug, als er sich von der Wand löste. Dennoch bleibt die Schüssel von Abu Chanifa nicht leer, die Ratten, die einzigen Lebewesen, die sich in den über- und durcheinandergebauten Gefängnissen auskennen, schleppen ihm das Wenige herbei, das er zu seiner Nahrung braucht. Ihr Leben ist kurz, aber die Sorge für den vergessenen Gefangenen vererbt sich, er ist ihr Freund seit unzähligen Rattengenerationen, er teilte einst sein Essen mit ihnen, und nun teilen sie das ihre mit ihm. Er nimmt dennoch ihren Dienst wie selbstverständlich hin, kaum daß er hin und wieder ihre Pelze streichelt, immer seltener, je mehr er versteinert, sind doch seine Gedanken anderswo: Auch ihm kommt es vor, als habe er während Jahrhunderten mit Allah geredet, allein in diesem finsteren Kerker, und das elende Verlies, in welchem er kauert, ist für ihn längst kein Verlies mehr. Den Kalifen hat er längst vergessen, manchmal gibt er sich Mühe, sich an den Namen zu erinnern; die lächerliche Meinungsver-schiedenheit, die ihn ins Gefängnis gebracht hat – er weiß nicht einmal mehr, worum es sich in diesem Streit gehandelt hat; auch ist es ihm nicht bewußt, daß er eigentlich schon längst den Kerker hätte verlassen können, daß niemand ihn hindern würde. Was ihn erfüllt, ist die Gewißheit, sich an einem heiligen Ort aufzuhalten, nur schwach hin und wieder erhellt, roh behauene Steinquader, schimmernd im Dunkeln, aber geheiligt durch den, der zu ihm gesprochen hat, durch Allah selbst; und 67
was ihn am Leben erhält, ist die Aufgabe, diesen Ort durch sein Ausharren zu hüten als sein, Abu Chanifas Eigentum, ihm von Allah selbst übergeben. So wartet Abu Chanifa denn auf die Stunde, da Allah in seiner Barmherzigkeit wieder zu ihm sprechen, da er wieder seinen Atem spüren und sein unermeß-
liches Antlitz sehen würde. Er wartet mit der ganzen Sehnsucht seines Herzens, mit der glühenden Kraft seines Geistes auf diese Stunde, und sie kommt auf ihn zu, wenn auch anders als erwartet: Anan ben David ist auf seinen Irrfahrten nach Istanbul gekommen, zufällig, er weiß nicht einmal, daß er in Istanbul ist. Er hockt seit Wochen vor einer alten Synagoge, fast eins mit dem Gemäuer, grau und verwittert wie dessen Steine, bis ihn ein betrunkener Schweizer entdeckt, ein Bildhauer, der, wenn er nicht betrunken ist, gewaltige eiserne Gerate und Blöcke zusammenschweißt. Der Schweizer starrt den kleinen, uralten, zwerghaften Juden an, legt ihn über seine mächtigen Schultern und schleppt ihn zu einem
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