Der Sturz - Erzählungen
bloß aus einem dumpfen Gefühl einer gewissen boshaften Gerechtigkeit, die den Kalifen als Herrscher über Gläubige und Ungläubige auszeichnet. Doch ist es auch möglich, daß er sich halb erinnert, eine Bittschrift flüchtig gelesen zu haben, ohne daß freilich al-Mansur noch weiß, von wem diese Bittschrift stammt, ob von einem Büro seiner Verwaltung, das sich mit jüdischen Angelegenheiten beschäftigt, oder gar von mehreren, ja es kommt ihm plötzlich vor, als habe er nur von ihr geträumt, von einem halb leserlichen Schreiben, worin die Verhaftung Anans gefordert wurde, weil dessen Anhänger den Rabbi, der aus dem sektenreichen Inneren Persiens aufgetaucht war, widerrechtlich zum Exar-chen über die babylonische Gemeinde ausgerufen hatten. Al-Mansur läßt Anan ben David in das schmutzige Verlies werfen, wo schon Abu Chanifa haust. Der hünenhafte Wärter, der Anan ben David hinführt, öffnet eine kleine eiserne Türe, mit zwei eichenen Querbalken verrammelt, die ihm kaum zur Hüfte 55
reicht, zwingt den Rabbi nieder und befördert ihn mit einem gewaltigen Fußstoß in die Zelle. Lange liegt der Rabbi bewußtlos auf dem steinernen Boden. Wie er zu sich kommt, erkennt er allmählich das Verlies, worin er sich befindet. Es ist quadra-tisch, eng und hoch. Die einzige Lichtquelle bildet ein kleines vergittertes Fenster, unerreichbar über ihm, irgendwo in der rohen Mauer. In einer Ecke kauert eine Gestalt. Anan ben David kriecht zu ihr, erkennt Abu Chanifa, kriecht zurück, kauert sich in die Ecke nieder, die jener des Muslim diagonal gegenüberliegt. Die beiden Theologen schweigen, jeder glaubt vom anderen, dieser sei im Unrecht, wenn auch nicht al-Mansur gegenüber, der sie beide schändlich behandelt hat, aber in Hinsicht auf die ewige Wahrheit. Ein uralter Wärter, der sich, um in Ruhe gelassen zu werden, als Sabier ausgibt, aber in Wirklichkeit einen verrosteten einäugigen Götzen anbetet und Muslime, Juden und Christen als gottlose Esel verachtet, setzt ihnen täglich wortlos eine Schüssel mit Speise vor und einen Krug mit Wein. Die Speise ist köstlich zubereitet, auf Befehl al-Mansurs, dessen Grausamkeit nie gemein, doch stets exquisit ist: Die Beleidigung besteht für beide darin, daß der Jude und der Muslim aus der gleichen Schüssel essen müssen; der Wein beleidigt allein Abu Chanifa. Eine Woche essen die Theologen nicht. Standhaft bis zum Exzeß will jeder der Frömmste sein und seinen Gegner durch Ergebenheit in den Willen Gottes beschämen. Bloß den Wein kosten sie gemeinsam, sich hin und wieder die Lippen netzend, der Muslim, um nicht zu verdursten – was Allah gegenüber ja auch eine Sünde gewesen wäre –, Anan ben David, dem Wein erlaubt ist, um Abu Chanifa gegenüber nicht unmenschlich zu erscheinen, dessen Durst er verdoppeln würde, tränke er in vollen Zügen.
Ratten fallen über die Schüssel her, Ratten gibt es überall.
Zuerst wagen sie sich zögernd hervor, dann täglich frecher.
Nach einer Woche findet Abu Chanifa die Demut des Juden empörend, es kann sich unmöglich um eine echte Demut 56
handeln wie bei ihm, dem Muslim; der Jude muß aus gotteslä-
sterlichem Trotz handeln oder aus teuflischer Heimtücke, in der Absicht, den Diener des Propheten, den profunden Kenner des Korans, der Sunna des Hadith durch gespielte Demut zu demütigen: Abu Chanifa ißt die Schüssel leer, blitzschnell, bevor noch die Ratten wie bisher über sie herzufallen vermö-
gen, so flink die Bestien auch sind. Nur einen kleinen Rest läßt der Gottesgelehrte zurück, den Anan ben David aufleckt, bescheiden, mit niedergeschlagenen Augen, wenn auch nicht gänzlich ohne Hast, der Hunger ist allzu rasend, aber er denkt an den Talmud, der das Martyrium verwirft, und die enttäusch-ten Ratten bedrängen nun ihn, ja schnappen nach ihm. Schlag-artig, wie eine Erleuchtung, wird es Abu Chanifa bewußt, daß die Demut des Juden echt ist. Dadurch beschämt, zerschmettert, vor Allah zerknirscht, ißt nun Abu Chanifa am anderen Tag nichts, aber Anan ben David, der seinerseits Abu Chanifa nicht demütigen will, weil dieser doch am Vortage gegessen hat, und von dessen Frömmigkeit er überzeugt worden ist, dazu noch von der Demut des Muslim ihm und Jehova gegenüber gedemütigt, ißt, schlingt, so eilig hat er es, frißt die Schüssel leer, all die köstlich zubereiteten Speisen, noch hastiger als Abu Chanifa am Vortage, weil die Ratten noch gieriger geworden sind, noch unverschämter, noch ungestümer,
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