Der Sturz - Erzählungen
doch auch er leert sie nur beinahe, wie der Muslim vorher, so daß nun Abu Chanifa, glücklich darüber, sich endlich vor dem Rabbi auf dieselbe Weise demütigen zu dürfen, den Rest auflecken kann, auch er nun wieder von Ratten beklettert, ja überhäuft, über-schwemmt, kaum ist es noch auszumachen, was Abu Chanifa, was Ratten sind, worauf sich die Biester mit der Zeit schwer enttäuscht und gekränkt zurückziehen. Beide, der Muslim und der Jude, kauern sich von da an zufrieden in gleicher Frömmigkeit gegenüber, beide gleich gedemütigt, beide gleich demütig, beide gleicherweise erschöpft durch den frommen Zweikampf. Sie haben einander überzeugt, nicht durch den 57
Glauben, der bei beiden verschieden bleibt, unversöhnlich, doch durch ihre ebenbürtige Frömmigkeit, durch dieselbe mächtige Kraft, womit sie ihren unterschiedlichen Glauben glauben. So beginnt ein theologisches Gespräch, durch den Mondschein begünstigt, der schräg und grell durch die vergitterte Fensterlücke fällt. Die beiden sprechen miteinander, zögernd, vorsichtig zuerst, von langen Pausen tiefster Versunkenheit unterbrochen, bald fragt Abu Chanifa, und Anan ben David antwortet, bald fragt der Rabbi, und der Muslim antwortet. Der Morgen graut, irgendwo wird schon gefoltert. Das Schreien und Stöhnen macht das Gespräch der beiden unmöglich, Rabbi Anan und Abu Chanifa beten so laut und mächtig, jeder in seiner Sprache, daß die Folterknechte erschrocken von ihren Opfern lassen. Der Tag kommt, die Sonne flammt in die Zelle, scharf gestochen, ein Lichtstrahl, der freilich nicht den Boden des Kerkers erreicht, einen Augenblick nur glänzt in ihm Abu Chanifas weißes Haar auf. Ein Tag folgt dem anderen, eine Nacht der anderen, sie essen gemeinsam nur das Notwendige, nur wenig von der Speise, die immer schlechter wird, weil der Befehl des Kalifen allmählich vergessen wird.
Statt Wein ist längst Wasser im Krug. Den Rest des undefi-nierbaren Breis, den der wortlose Wärter ihnen schließlich hinschmeißt, überlassen sie den Ratten, die ihre Freunde werden, sie freundlich umpfeifen, die Nasen an ihnen reiben.
Die beiden streicheln sie gedankenverloren, so sehr sind sie in ihr mächtiges Gespräch vertieft. Der Muslim und der Jude loben denselben majestätischen Gott und finden es über alle Maßen wundersam, daß er sich gleich in zwei Büchern offenbart hat, in der Bibel und im Koran, in der Bibel dunkler, unvorausberechenbar in seiner Gnade und in seinem Zorn, in seiner unbegreiflichen Ungerechtigkeit, die sich immer als Gerechtigkeit herausstellt, im Koran dichterischer, hymnischer, auch etwas praktischer in seinen Geboten. Doch indem die beiden Theologen Gott preisen, bedauern sie allmählich den 58
menschlichen Aberwitz, die göttlichen Originalschriften zu ergänzen: Anan ben David verflucht den Talmud, Abu Chanifa Sunna und Hadith. Jahre vergehen. Der Kalif hat die beiden Theologen längst vergessen. Die Meldung seines Geheimdienstes, der Glaube breite sich aus, daß allein der Koran Geltung habe, nimmt er kaum zur Kenntnis, vielleicht kann man diesen neuen Glauben einmal politisch verwerten, so oder so, und wie der jüdische Minister für jüdische Angelegenheiten berichten will, der Zweifel an der Gültigkeit des Talmud verbreite sich unter den Juden in Babylonien immer mehr, unterbricht er den Vortrag, so sehr gähnt al-Mansur. Mit steigendem Alter macht diesem – mehr noch als sein Riesenreich – der Harem zu schaffen, die Eunuchen reißen schon Witze, außerdem ist dem Großwesir nicht recht zu trauen; und weil der Großwesir spürt, daß ihm der Kalif nicht mehr traut, vergißt er die beiden Gefangenen ebenfalls, mit gutem Gewissen, ist es doch Aufgabe der Verwaltung, sich um Anan ben David und Abu Chanifa zu kümmern. Aber die Verwaltung ist überlastet, das Gefängnis längst zu klein bei den politischen Wirren, die einsetzen: Sklavenaufstände, Rebellionen von mazdakischen Kommunisten, ein Harem nach dem anderen läuft zu ihnen über, da sie auch die Frauen gemeinsam haben. Neue Gefängnisse werden gebaut, zuerst neben dem alten, seine Außenmauern als Stütz-mauern zu weiteren Kerkern benutzend, eine ganze Gefängnisstadt entsteht, über die sich mit der Zeit eine zweite und eine dritte Gefängnisstadt erhebt, planlos, doch solid, Quader auf Quader getürmt. Al-Mansur ist längst gestorben und auch dessen Nachfolger al-Mahdi und dessen Nachfolger al-Hadi ibn al-Mahdi, den seine Mutter ermorden ließ, um ihrem
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