Der Sturz - Erzählungen
Lieblingssohn Harun al-Raschid ibn al-Mahdi zur Macht zu verhelfen; dann stirbt der und dessen Nachfolger und so weiter, alle sinken sie dahin. Das Gefängnis, in welchem sich Abu Chanifa und Anan ben David gegenüberkauern, tief unter all den Gefängnissen, die daneben und darüber gebaut worden 59
sind und wiederum darüber und daneben gebaut werden, weil der Aufstand der Negersklaven den Kalifen al-Mutamid ibn al-Mutawakkil zu neuen riesigen Gefängnissen zwingt, dieses wenige Quadratmeter messende Verlies im ursprünglichen Gefängnis ist längst verschollen und mit ihm Abu Chanifa und Anan ben David, ohne daß sich die beiden dessen bewußt sind, sitzen sie sich doch immer noch im Dunkeln gegenüber, im beinahe Dunkeln, denn tagsüber dringt von irgendwo oben, gebrochen durch unzählige Schächte, die kreuz und quer laufen, wie es sich bei der endlosen Bauerei ergab, ein schwacher Lichtschimmer zu ihnen herunter, gerade genügend, daß sie, neigen sie sich einander entgegen, ihre Gesichtszüge erkennen können. Aber sie kümmern sich nicht darum, ihr Gegenstand, mit dem sie sich beschäftigen, ist unerschöpflich, ja er scheint immer unerschöpflicher zu werden, je tiefer sich die beiden m ihn versenken. Ihr Gegenstand ist Gott in seiner Erhabenheit, demgegenüber alles unbedeutend ist: das jämmerliche Essen, die feuchten Pelze der Ratten, die längst den Koran und die Thora aufgefressen haben, die beiden einzigen Bücher, die ihnen al-Mansur hatte als Gefängnislektüre gestat-ten müssen; daß sie diese heiligen Schätze nicht mehr besitzen, ist von ihnen nicht einmal mehr bemerkt worden: Abu Chanifa und Anan ben David strichen zärtlich über die Pelze der Bestien, als diese ihr Zerstörungswerk begannen. Abu Chanifa ist längst gleichsam der Koran und Anan ben David die Thora geworden; spricht der Jude eine Stelle aus der Thora, spricht der Araber eine Sure aus dem Koran, die zur Stelle aus der Thora paßt. Auf eine geheimnisvolle Weise scheinen sich die beiden Bücher zu ergänzen; auch wenn ihrem Wortlaut nach keine Übereinstimmung vorliegt, sie stimmen doch überein.
Der Friede der beiden Gefangenen ist vollkommen, doch rechnen sie in ihrer Versunkenheit in die göttlichen Offenbarungen, die sich scheinbar widersprechen und doch ergänzen, mit einem nicht, mit dem Nächsten, mit dem Wärter, mit dem 60
wie die beiden nun uralten Sabier, der im geheimen immer noch seinen Götzen anbetet und, je unbarmherziger der rohe einäugige Götze schweigt, desto trotziger den Araber und den Juden verachtet. Er ist wie die beiden längst vergessen worden, die Gefängnisverwaltung weiß nichts mehr von seiner Exi-stenz, er muß sich sein Essen bei anderen Gefängniswärtern zusammenbetteln, die ihrerseits vergessen worden sind und ihr Essen zusammenbetteln müssen. Das wenige, das der Sabier erbettelt, teilt er mit den Gefangenen mechanisch, aus einem gewissen Pflichtgefühl heraus, das stärker als die Verachtung ist, die er den beiden gegenüber empfindet, eine Verachtung, die sich langsam zum Haß steigert, zu einem ohnmächtigen dunklen Zorn, der in ihm nagt, ihn ausfüllt, so daß er eigentlich nichts mehr ist als dieser Haß auf alle Juden und Araber und darüber hinaus auf deren Gott, der einmal geredet haben soll, auf diesen Dichtergott, wie er ihn nennt, ohne eigentlich zu wissen, wo er dieses Wort aufgeschnappt hat, denn was ein Dichter sein soll, weiß er auch nicht. Da erläßt irgendein Kalif, sei es al-Qadir ibn Ishaq ibn al-Muqtadir oder al-Qaim ibn al-Qadir, nach einer glücklichen Liebesnacht mit einer gefange-nen Venezianerin namens Amanda, Anunciata oder Annabella mit langen zinnoberroten Haaren, den Befehl, alle Staatsgefan-genen, deren Namen mit A beginnen, freizulassen. Durch einen Zufall dringt der Befehl zweihundert Jahre später, in den letzten Tagen al-Mustansir ihn az-Zahirs, des vorletzten aller Kalifen, bis zum uralten Sabier vor, der Anan ben David brummend freiläßt, nach einigem Zögern freilich, hat er doch das Gefühl, auch Abu Chanifa freilassen zu müssen, eigentlich könnte er sich, denkt er, nach dem ›Abu‹ richten, niemand würde es bemerken, aber sein Haß, den er gegen die beiden hegt, bewegt ihn, sich an ›Chanifa‹ zu halten und die beiden Theologen zu trennen. So läßt er schadenfroh nur Anan ben David frei. Bestürzt nimmt der Jude von Abu Chanifa Abschied, tastet noch einmal über das Gesicht des vertrauten 61
Freundes, starrt in seine Augen, die wie aus
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