Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
Vom Netzwerk:
ohnehin schon zweifelten, einfach geantwortet: teils – teils, aber heute war ihr das Ganze zu dumm, vielleicht nur, weil es schon nach fünf war, als der bleiche Jüngling angehumpelt kam, eigentlich hätte sie das Heiligtum schließen müssen, und so prophezeite sie ihm denn, sei es, um ihn von seinem Aberglauben an die Orakelkunst zu heilen, sei es, weil es ihr in einer boshaften Laune gerade einfiel, den blasierten Prinzen aus Korinth zu ärgern, etwas möglichst Unsinniges und Unwahrscheinliches, von dem sie sicher war, daß es nie eintreffen würde, denn, dachte Pannychis, wer wäre auch imstande, seinen eigenen Vater zu ermorden und seiner eigenen Mutter beizuschlafen –
    die inzestbeladenen Götter- und Halbgöttergeschichten hielt sie ohnedies für Märchen. Zwar beschlich sie ein leises Unbeha-gen, als der linkische Prinz aus Korinth auf ihr Orakel hin erbleichte, sie bemerkte es, obgleich sie auf ihrem Dreifuß von Dämpfen umhüllt war – der junge Mann mußte wirklich außerordentlich leichtgläubig sein. Als er sich dann behutsam aus dem Heiligtum zurückgezogen und beim Oberpriester Merops XXVII bezahlt hatte, der bei Aristokraten persönlich kassierte, schaute Pannychis Ödipus noch einen Augenblick lang nach, kopfschüttelnd, weil der junge Mann nicht den Weg nach Korinth einschlug, wo doch seine Eltern wohnten; daß sie mit ihrem scherzhaften Orakel vielleicht irgendein Unheil angestiftet haben könnte, verdrängte sie, und indem sie dieses ungute Gefühl verdrängte, vergaß sie Ödipus.

    97

    Alt, wie sie war, schleppte sie sich durch die endlosen Jahre, ständig im Hader mit dem Oberpriester, der ein Heidengeld mit ihr verdiente, weil ihre Orakel immer übermütiger ausfielen.
    Sie glaubte nicht an ihre Sprüche, vielmehr wollte sie mit ihrer Orakelei jene verspotten, die an sie glaubten, so daß sie bei den Gläubigen nur einen immer unbedingteren Glauben erweckte.
    Pannychis orakelte und orakelte, an eine Pensionierung war nicht zu denken. Merops XXVII war überzeugt, je älter und geistesschwacher eine Pythia sei, um so besser, und am besten eine sterbende, die prächtigsten Orakel habe die Vorgängerin der Pannychis, Krobyle IV, sterbend produziert. Pannychis nahm sich vor, nichts zu orakeln, wenn es einmal so weit wäre, wenigstens sterben wollte sie würdig, ohne Unsinn zu treiben; daß sie ihn jetzt noch treiben mußte, war entwürdigend genug.
    Dazu kamen die tristen Arbeitsbedingungen. Das Heiligtum war feucht und zugig. Von außen sah es prächtig aus, reinster frühdorischer Stil, innen war es eine schäbige, schlecht abge-dichtete Kalksteinhöhle. Pannychis’ einziger Trost war, daß die Dämpfe, die aus der Felsspalte unter dem Dreifuß heraufquol-len, den Rheumatismus linderten, den die Zugluft verursachte.
    Was in Griechenland vorging, kümmerte sie längst nicht mehr; ob es in Agamemnons Ehe kriselte oder nicht, war ihr gleichgültig; mit wem es Helena wieder trieb, egal; sie orakelte blind drauflos, und weil man ihr ebenso blind glaubte, störte es niemanden, daß das Prophezeite nur selten eintraf und, traf es doch einmal ein, auch gar nicht anders hätte eintreffen können: Bei den Bärenkräften des Herkules etwa gab es für den Helden, der keinen Gegner fand, weil niemand ihm gewachsen war, keinen anderen Ausweg, als sich zu verbrennen, und das nur, weil ihm die Pythia den Floh ins Ohr gesetzt hatte, er werde nach seinem Tode unsterblich; ob er es dann wirklich wurde, war gänzlich unkontrollierbar. Und die Tatsache, daß Jason Medea überhaupt geheiratet hatte, erklärte hinreichend, warum er seinem Leben schließlich ein Ende setzte, hatte doch, als er 98

    mit seiner Braut in Delphi erschien, um das Orakel des Gottes zu erflehen, die Pythia blitzartig instinktiv geantwortet, er solle sich lieber in sein Schwert stürzen, als ein solches Vollweib zur Frau nehmen. Unter diesen Umständen war der Aufschwung des delphischen Orakels nicht mehr aufzuhalten, auch wirtschaftlich nicht. Merops XXVII plante kolossale Neubauten, einen riesigen Apollotempel, eine Musenhalle, eine Schlangensäule, verschiedene Banken und sogar ein Theater. Er verkehrte nur noch mit Königen und Tyrannen; daß sich nach und nach die Pannen häuften, daß der Gott immer nachlässiger zu werden schien, beunruhigte ihn längst nicht mehr. Merops kannte seine Griechen, je toller das Zeug war, das die Alte zusammen-schwafelte, um so besser, sie war ohnehin nicht mehr vom Dreifuß herunterzubringen und

Weitere Kostenlose Bücher