Der Sturz - Erzählungen
dämmerte in den Dämpfen vor sich hin, in ihren schwarzen Mantel gehüllt. Wurde das Heiligtum geschlossen, saß sie noch eine Weile vor dem Seitenportal, hinkte dann ins Innere ihrer Hütte, kochte sich einen Brei, ließ ihn stehen, schlief ein. Jede Änderung in ihrem Tagesablauf war ihr verhaßt. Nur unwillig erschien sie bisweilen im Büro Merops XXVII, brummend und knurrend, ließ sie der Oberpriester doch nur rufen, wenn für einen seiner Klienten irgendein Seher ein von ihm formuliertes Orakel verlangte. Pannychis haßte die Seher. Wenn sie auch nicht an die Orakel glaubte, so sah sie in ihnen doch nichts Unsauberes, die Orakel waren für sie ein von der Gesellschaft verlangter Blödsinn; aber die von den Sehern formulierten Orakel, die sie auf deren Bestellung hin orakeln mußte, waren etwas ganz anderes, sie verfolgten einen bestimmten Zweck, da steckte Korruption dahinter, wenn nicht gar Politik; und daß Korruption und Politik dahintersteck-ten, dachte sie an jenem Sommerabend sofort, als Merops, sich hinter seinem Schreibtisch räkelnd, ihr auf seine stinkfreundli-che Art erklärte, der Seher Tiresias habe einen Wunsch.
Pannychis erhob sich, kaum hatte sie Platz genommen, und erklärte, sie wolle mit Tiresias nichts zu tun haben, sie sei zu 99
alt und zu textunsicher, um noch Orakel auswendig zu lernen und zu rezitieren. Adieu. Moment, sagte Merops, Pannychis nacheilend und sie zwischen Tür und Angel stellend, Moment, es sei ganz unnötig, sich aufzuregen, auch ihm sei der Blinde unangenehm, Tiresias sei Griechenlands größter Intrigant und Politiker und, bei Apoll, korrupt bis auf die Knochen, aber er zahle nun einmal am besten, und was er verlange, sei vernünftig, in Theben sei wieder einmal die Pest ausgebrochen. Die breche in Theben immer wieder aus, knurrte Pannychis; wenn man die hygienischen Verhältnisse um die Burg Kadmeia herum in Betracht ziehe, sei das auch kein Wunder, die Pest sei in Theben sozusagen endemisch. Sicher, beschwichtigte Merops XXVII Pannychis XI, Theben sei grausig, ein schmutziges Nest in jeder Beziehung, nicht umsonst gehe die Sage um, selbst die Adler des Zeus seien nur mühsam imstande, Theben zu überfliegen, mit nur einem Flügel flatternd, weil sie sich mit dem anderen die Nasenlöcher zuhielten, und die Verhältnisse am Königlichen Hofe – na ja. Tiresias schlage vor, seinem Klienten, der morgen vorsprechen werde, zu orakeln, die Pest verschwinde erst, wenn der Mörder des thebanischen Königs Laios entdeckt sei. Pannychis wunderte sich, das Orakel war banal, Tiresias mußte senil geworden sein.
Nur der Form halber fragte sie noch, wann denn der Mord begangen worden sei. Irgendwann, vor Jahrzehnten, ohne Bedeutung, finde man den Mörder, gut, meinte Merops, finde man ihn nicht, auch gut, die Pest gehe ohnehin vorüber, und die Thebaner würden glauben, die Götter hätten, um ihnen zu helfen, den Mörder irgendwo in der Einsamkeit, wohin er sich verkrochen, zerschmettert und so die Gerechtigkeit eigenhändig hergestellt. Die Pythia, froh, wieder in ihre Dämpfe zu kommen, fauchte, wie denn der Klient des Tiresias heiße.
»Kreon«, sagte Merops XXVII.
»Nie gehört«, sagte Pannychis. Er auch nicht, bestätigte Merops.
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»Wer ist der König von Theben?« fragte die Pythia.
»Ödipus«, antwortete Merops XXVII.
»Auch nie gehört«, entgegnete Pannychis XI, die sich wirklich nicht mehr an Ödipus erinnerte.
»Ich auch nicht«, bestätigte Merops, froh, die Alte loszuwer-den, und übergab ihr den Zettel mit dem von Tiresias kunstvoll formulierten Orakel.
»Jamben«, seufzte sie noch, einen Blick auf den Zettel wer-fend, »natürlich, das Dichten kann er nie lassen.«
Und als am anderen Tag, kurz vor Schließung des Heiligtums, die Pythia, auf dem Dreifuß hin und her wiegend, wohlig in die Dämpfe gehüllt, eine schüchterne, lammfromme Stimme vernahm, die Stimme eines gewissen Kreon aus Theben, sagte sie den Spruch auf, nicht ganz so flüssig wie früher, einmal mußte sie sogar von vorn beginnen:
»Mit klarem Wort gebietet dir Apoll, die Blutschuld, die in diesem Lande wuchert, unheilbar – mit klarem Wort gebietet dir Apoll, die Blutschuld, die in diesem Lande wuchert, unheilbar nicht zu machen: auszutreiben. Ihn zu verbannen oder Blut mit Blut zu sühnen. Blut befleckt das Land. Für Laios’ Tod heißt Phoibos Rache nehmen an seinen Mördern. Das ist sein Befehl.«
Die Pythia schwieg, froh, mit dem Text über die Runde gekommen zu sein, das
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