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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Schweizer mit dem lächerlichen Kavalierstuch kam auf ihn zu, begleitete ihn zum Warenaufzug. Smithy fuhr hinunter, im Lieferanteneingang stand immer noch Cover, wischte sich den Schweiß ab. »Nick kann mir die Ware zuschicken«, sagte Smithy, während er in die unbarmherzige Hitze hineinschritt, die sich in der Straßenschlucht staute, aber Smithy war alles gleichgültig, die ungeheure Sonne über der Riesenstadt, die Riesenstadt und die Menschen, die sich in ihr bewegten, der Dampf, der aus den Kanalisationsdeckeln quoll, die kriechen-den, stinkenden Wagenkolonnen, er ging und ging, ob durch die Fünfte Straße, durch die Madison, Park oder Lexington Avenue oder durch die Dritte, Zweite oder Erste Straße, er wußte es nicht, er ging, trank irgendwo ein Bier, aß in einem schmierigen Drugstore, er wußte nicht was, saß lange im Park auf einer Bank, er wußte nicht wie lange, einmal saß eine junge Frau neben ihm, einmal eine alte Frau, dann kam es ihm vor, als hätte jemand neben ihm Zeitung gelesen, es war ihm gleichgültig, er dachte nur an die Tote, wie sie am frühen Morgen ins Coburn gegangen war, an den Hoteldienern vorbei, wie er sie beobachtet hatte im Rückspiegel des Cadillac, wie sie oben in der Tür des Sezierraums mit der linken Schulter an dem Pfosten gelehnt hatte, wie sie auf Leibnitz’ Matratze nackt gewesen war, wie sie sich ihm hingegeben, wie sie ihn im Lift angestarrt hatte und wie er nichts begriffen hatte. Eine wilde Zärtlichkeit war in ihm und ein wilder Stolz, Smithy war ihrer würdig, er hatte es dem dreckigen lieben Gott hinter dem Schreibtisch gezeigt, wie sie es ihm gezeigt hatte, und dann 93

    war es plötzlich Nacht. Die Straßenlampen brannten, und wahrscheinlich war die Nacht noch heißer, noch höllischer als der Tag zuvor und die Nacht zuvor und als der Tag gewesen war, der nun in die Nacht geglitten war, die ihn umgab, aber er achtete nicht darauf. Er tat alles ohne zu wissen, in Gedanken an die Frau, von der er nichts wußte, keinen Namen, keinen Vornamen, nichts, eigentlich nur, wie sie als Tote aussah, aber er hatte sie geliebt, und als er in Leibnitz’ Sezierraum stand, war alles schon vorüber, nur das Kleid der Toten lag über der Lehne des Stuhls, fein säuberlich zusammengefaltet, wie das nun einmal Leibnitz’ Gewohnheit war. Smithy nahm das Kleid.
    Er fuhr mit dem Lift in Leibnitz’ Zimmer, aber Leibnitz war auch hier nicht, Leibnitz mußte ausgegangen sein, was doch sonst um diese Zeit nie der Fall war, aber schon im Lift hatte Smithy gewußt, daß er die dreckige, dunkle, dumpfe Bude leer finden würde. Smithy ließ die Tür zum Lift offen, das Licht vom Lift fiel auf ihn, er setzte sich auf die Matratze, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, auf seinem Schoß lag das Kleid der Frau, die nun tot war, die er auf dieser Matratze geliebt hatte, ohne daß er sich daran erinnern konnte, im Rechteck des Fensters undeutliches Licht, der Lift fuhr hinunter, nur das unbestimmte Licht im Fenster blieb, Smithy fühlte nichts als den Stoff des Kleides, über das seine Hände fuhren, ein leichter Fetzen, mehr nicht. Auf einmal war der Lift wieder da, ein Schatten schob sich zwischen sein Licht und Smithy, füllte die Türe, plötzlich wurde es grell im Zimmer, van der Seelen hatte das Licht angedreht, und hinter van der Seelen war Sam. Smithy schloß die Augen, das Licht blendete ihn, und seine Hände streichelten das Kleid. »Du hast das Geschäft Deines Lebens vermasselt«, sagte van der Seelen nicht einmal sonderlich verärgert, mehr erstaunt, und Smithy antwortete stolz: »Nicks Geschäft«, worauf van der Seelen zur Seite trat.
    Sam hielt etwas in den Händen, das auf Smithy keinen Eindruck mehr machte, er fürchtete sich nicht vor dem, was Sam 94

    nun tun mußte, und als es Sam getan hatte, meinte van der Seelen, schon im Lift und jetzt doch etwas verärgert: »Schade um meine Prozente.«

    95

    Das Sterben
    der Pythia
    1976

    Die delphische Priesterin Pannychis XI, wie die meisten ihrer Vorgängerinnen lang und dürr, hatte, verärgert über den Unfug ihrer Orakelsprüche und über die Leichtgläubigkeit der Griechen, den Jüngling Ödipus angehört; wieder einer, der danach fragte, ob seine Eltern seine Eltern seien, als wäre das in aristokratischen Kreisen so einfach zu entscheiden, wirklich, gab es doch Eheweiber, die angaben, Zeus selbst habe ihnen beigewohnt, und Ehemänner, die das sogar glaubten. Zwar hatte die Pythia in solchen Fällen, da die Fragenden

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