Der Sucher (German Edition)
wieder auf die Füße zu kommen.
»Danke«, keuchte ich und versuchte, mich neu zu orientieren. Ich hatte mir zwar kaum wehgetan, aber durch den Unfall wusste ich nicht mehr, in welche Richtung ich gegangen war. Mit etwas Pech spazierte ich jetzt ahnungslos zum Ende der Plattform zurück und fiel über die Kante ins Wasser. Nicht, dass mir das etwas ausgemacht hätte ...
»Wieso trägst du dieses ... Ding? Bist du an den Augen verletzt?« Das Mädchen war immer noch da.
»Zum Glück nicht – ich bin Sucher-Lehrling«, erklärte ich und versuchte, sie anzulächeln. Aber anscheinend guckte ich in die falsche Richtung, denn sie begann zu kichern. Ich drehte mich ihrer Stimme zu. »Tja, schade, ich weiß gar nicht, wie du aussiehst.«
Das Mädchen lachte. »Schau doch selbst ...«
Sie nahm einfach meine Hand und legte sie auf ihre Wange. Ich war so verblüfft, dass ich erst einen Wimpernschlag später begriff, was sie meinte. Dann begann ich, sanft ihr Gesicht abzutasten. Sie hatte eine kleine, ein bisschen knubbelige Nase, unglaublich zarte Haut und kurze Haare, wie wir sie fast alle trugen, weil sie nicht so lange zum Trocknen brauchten. »Fühlt sich alles ziemlich gut an«, sagte ich. Sie roch auch gut, nach frischem Wasser und Baumharz und den Nüssen, die sie wahrscheinlich vorhin gegessen hatte.
»Na, schade, dass du auf diese Art nicht sehen kannst, wie schön der Himmel heute aussieht. Er ist von weißen Wölkchen richtig gesprenkelt.«
»Das muss ich mir eben vorstellen«, erwiderte ich und versuchte es gleich mal.
Gerade wollte ich dem Mädchen davon erzählen, da sagte es hastig: »Ich muss gehen. Da ist mein Bruder, er wartet schon auf mich. Friede den Gilden!«
»Äh, und Wohlstand ganz Daresh«, brachte ich gerade noch heraus und ärgerte mich, weil ich vergessen hatte, sie nach ihrem Namen zu fragen.
Udiko und ich verbrachten die ganze nächste Woche auf verschiedenen Märkten, in Schänken und Handelsposten. Meist unterhielten wir uns kaum dabei, hörten nur zu und verglichen hin und wieder unsere Eindrücke oder machten Bemerkungen. Ob Udiko wusste, dass ich nach einer ganz bestimmten Stimme lauschte? Aber sie war nie dabei. Keine Chance , dachte ich. Du weißt nicht, wie sie heißt, du weißt nicht genau, wie sie aussieht ... Vergiss es einfach!
Abends, zurück in der Wohnkuppel am Grund des Sees, unterhielten Udiko und ich uns ausführlicher über die Gespräche, die wir mitgehört hatten. Unter seiner Anleitung lernte ich, die feinen Schwingungen aus Stimmen herauszuhören, die eine Lüge verrieten. Nach zwei Tagen hatte ich auch keine Probleme mehr damit, mehrere Gespräche gleichzeitig zu verfolgen, indem ich mal hier, mal dort ein paar Atemzüge lang mithörte. Udiko brachte mir bei, aus dem Akzent festzustellen, aus welcher Gegend von Daresh jemand stammte, und durch die Redeweise und Anhaltspunkte im Gespräch innerhalb von kurzer Zeit herauszufinden, was für einer Gilde derjenige angehörte, was für eine Berufung er hatte, in welchen Verhältnissen er aufgewachsen war, wie er lebte und dachte.
Manchmal versuchte ich, meine neuen Fähigkeiten auf Udiko selbst anzuwenden. Ich wusste kaum etwas über ihn, und er war natürlich der Mensch, der mich im Moment am meisten interessierte. Doch Udiko schaffte es auf irgendeine Art, gleichzeitig völlig ehrlich zu sein und sehr wenig über sich zu verraten. Ich konnte den Nebelschleier, den er über seine Persönlichkeit legte, förmlich spüren. Natürlich war es mein Fehler – ich traute mich noch nicht, ihn einfach auszufragen. So, wie auch er mir keine Fragen stellte, obwohl ich sein Lehrling war und mit ihm in einer Kuppel lebte. Ich glaube, er wartete darauf, bis ich bereit war, ihm freiwillig etwas über mich zu erzählen.
An einem regnerischen Abend kurz nach Sonnenuntergang verkündete der Große Udiko: »Die zwei Wochen sind um. Du kannst das Tuch nun wieder abnehmen, wenn du willst.«
Ob ich wollte? Was für eine Frage! Allerdings hatte sich der Knoten so festgezogen, dass ich mein Messer zu Hilfe nehmen und das Tuch zerschneiden musste. Langsam zog ich es mir vom Kopf – und war froh, dass Udiko eines seiner beiden Leuchttierchen abgedeckt hatte. Selbst der schwache Schein tat mir in den Augen weh.
»Morgen gehst du nicht raus – du musst dich langsam wieder ans Licht gewöhnen«, befahl Udiko. Er legte mir kurz die Hand auf die Schulter. »Glückwunsch. Diese erste Zeit war nicht leicht, aber du hast dich gut gehalten,
Weitere Kostenlose Bücher