Der sueße Kuss der Luege
echte Mutter beschützt wie ein Drache seine Burg, denn die Prinzessin war krank gewesen, schlimm krank, und wenn er es nur besser gemacht hätte, dann wären sie heute noch zusammen. Wenn er nur nicht den Arzt geholt hätte, wenn, wenn, wenn. Unwillkürlich stöhnte er laut, unterdrückte es aber sofort, als er bemerkte, dass der ältere ihn beobachtete.
»Also, was haben sie dir gesagt?«
»Nichts.« Jo hatte total vergessen, dass der ältere ihn etwas gefragt hatte, und spürte, wie er rot wurde, was er hasste. Eigentlich war er ein Meister im Lügen, aber dazu musste er die Kontrolle über das haben, was er sagte, und nicht gleich mit allem rausplatzen. Eigentlich hatte er sich abtrainiert, spontan zu antworten, um zu verhindern, dass er rot wurde. Außerdem konnte man die Leute verunsichern, wenn man eine winzige Pause machte, bevor man antwortete.
»Okay, du willst es mir nicht sagen, warum? Prügelt dich der Alte dann? Oder kriegst du nichts mehr von dem köstlichen Zeug, was die Alte in der Mikrowelle für uns auftaut?« Sein Bruder grinste so breit, dass man sein hellrosa Zahnfleisch sehen konnte.
Unwillkürlich grinste Jo zurück. Ihre Pflegemutter war sehr stolz auf die gemeinsamen Mahlzeiten im Familienkreis und erzählte der Tussi vom Jugendamt, wie wichtig das für alle wäre. Aber Jo fragte sich jeden Abend, welchen Sinn es haben sollte, zusammenzusitzen und Tiefkühlpizza zu essen, während der Fernseher lief.
Früher war das anders gewesen. Die Prinzessin hatte mit ihm geredet, sie hatte ihm Geschichten erzählt, sie hatte ihm aus wunderbaren Büchern vorgelesen, jedenfalls dann, wenn ihre Dämonen sie in Ruhe gelassen hatten.
»Der prügelt dich, oder?«, fragte der ältere und sein Gesicht wurde noch hagerer. »Hat noch keinem geschadet, oder?« Er sprang so unvermutet auf, dass Jo zusammenschrak, dann boxte er in die Luft und unterstrich jeden Satz mit einem wütenden Tritt in die Luft. »Schadet nichts! Treibt dir die Flausen aus dem Kopf! Ist nur zu deinem Besten! Wer sein Kind liebt, züchtigt es!« Völlig außer Atem ließ er sich wieder neben ihm auf das stoppelige Gras fallen.
Der jüngere spürte, wie sich die Röte von den Wangen bis in den Hals ausbreitete. »Yep«, sagte er und starrte auf seine Fußspitzen, weil er noch nie mit jemandem darüber geredet hatte. Reden war schlimm, das letzte Mal, als er wirklich den Mund aufgemacht hatte, war er von der Prinzessin getrennt worden. Noch ein Grund, den Mund zu halten.
»Hey, Kleiner, das ist jetzt vorbei. Er wird dich ab sofort in Ruhe lassen.« Der ältere zog das Messer wieder aus seiner Hosentasche. »Du gefällst mir, lass uns Blutsbrüder werden. Für immer.«
»Aber wieso?« Jo blieb misstrauisch, er witterte eine neue Schikane. Vielleicht würde ihm der andere die Fingerkuppe abschneiden, quasi als Ersatz für die Katze? Immerhin war sein Pflegebruder ein aggressiver Problemfall. »Du kennst mich doch gar nicht!«
Der ältere grinste ihn an, und weil er dabei seine Zähne stark fletschte, erinnerte er Jo an einen alten durchtriebenen Wüstenfuchs, der zwar bereit war, alles zu tun, um in der Wüste zu überleben, aber nicht so recht zu wissen schien, was er mit diesem Leben anfangen sollte.
»Du kämpfst sogar für eine elende Katze, obwohl du keine Chance gegen mich hast. Und du hast die ganze Woche kein einziges Mal gepetzt, wenn ich dich getrietzt habe, und das hab ich nicht zu knapp.« Ein selbstzufriedenes Lächeln huschte über sein schmales Gesicht, das aber sofort wieder verschwand. »Das ist mehr, als ich gewohnt bin, viel mehr. Also, was sagst du?«
Jo zuckte mit den Schultern. Blutsbrüder kannte er nur von Winnetou. Es kam ihm komisch vor. Reichte es denn nicht, dass sie Brüder sein mussten? Er sah dem anderen ins Gesicht und wusste plötzlich, wie der ältere sich fühlte.
Einsam. Allein. Genauso wie es ihm ergangen war, als sie ihn von der Prinzessin getrennt hatten. Seit damals war alles Lachen, alles Warme, alles Leuchtende aus seinem Leben verschwunden und hatte einer undurchdringlichen Mauer aus schwarzem Eis Platz gemacht, die ständig höher wurde und ihn dahinter erfrieren ließ.
Und noch etwas sah Jo in den merkwürdig leeren messergrauen Augen des älteren. Im Leben dieses neuen Bruders hatte es niemals eine Prinzessin gegeben. Diese Erkenntnis schnürte ihm die Kehle zu, der andere tat ihm unendlich leid. Er hielt ihm seinen Daumen hin und rang sich ein Lächeln ab. »Hugh, Bruder. Ich bin
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