Der sueße Kuss der Luege
zu verstehen.
»Lu, du bist meinem Sohn einfach im Weg und ich habe nicht all das auf mich genommen, um so kurz vor dem Ziel zu scheitern. Dein Verschwinden wird mir die Polizei so lange vom Leib halten, bis wir über alle Berge sind.«
Ich bin mir nicht sicher, ob ich richtig verstanden habe, und höre meine Stimme kaum noch. »Warum?« Vage schweben mir Bilder von Andrea vor, die mir Stoffe besorgt, die Kuchen bäckt, Lasagne für Sebastian kocht.
Wir sind an einer Treppe angekommen.
»All die Monate!«, zischelt mir Andrea ins Ohr, »all diese Monate mit dieser beschissen barmherzigen Japanerin, der ich den grünen Tee bringen musste, und mit diesem Kotzbrocken, dessen Haare ich aus dem Waschbecken lesen musste. Aber daraus habe ich einen Strick für sie alle geknüpft. Ich war Chefsekretärin! Ich habe eine ganze Bank am Laufen gehalten. Und dann stand Jan vor mir. Und das Beste ist, du selbst hast ihn mir gebracht.«
Sie zerrt mich die Treppe in einen Keller hinunter und plötzlich sehe ich das neongrüne Straßenschild vor mir von vorhin und ich erinnere mich, dass Gallus der ehemalige Galgenberg Frankfurts war. Hinrichtung, denke ich und plötzlich muss ich lachen. Hier wurden mal Leute hingerichtet.
Andrea schiebt mich durch einen dunklen Flur und ich weiß, ich sollte mich wehren, aber es ist, als ob mir jeder Wille genommen worden ist. Plötzlich bleibt sie stehen. Vor uns erkenne ich ein großes rechteckiges Dings mit einem Schloss in der Mitte, ich weiß das Wort nicht mehr. Doch, jetzt erinnere ich mich, Truhe mit Schloss, das ist eine Schatzkiste. Wenn ich doch nur die Augen aufbehalten könnte!
Andrea klappt den Deckel auf. Aus der Schatzkiste steigen weiße Nebel auf, fein wie Brautschleier, kalt und schimmernd wie gefrorener Schnee.
»Keine Angst, Lu, es wird ganz schnell gehen. Du wirst einfach einschlafen. Ich habe es dir bequem gemacht, schau, hier ist ein Kissen. Du verstehst doch, warum ich das tue?«
Ich nicke und habe auch nicht das Bedürfnis, vor meinem Brautschleier wegzurennen. Ich finde, sie hat recht, ich sollte mich schlafen legen. Schließlich bin ich müde, so müde wie noch nie in meinem Leben. Eine mickrige kleine Stimme irgendwo in meinem Kopf warnt mich, doch meine Müdigkeit legt sich über diese Stimme wie eine dicke Daunendecke, sodass sie leiser und leiser wird. Ein Schläfchen kann doch nicht schaden.
»Ich tue das nicht aus Rache. Nur aus Liebe, verstehst du? Nur aus Liebe. Warte, ich helfe dir.«
Sie steigt mit mir auf einen Hocker und hilft mir, in die Truhe zu steigen. Wieder regt sich von tief unten in meinem Bauch Widerstand. Es ist nicht richtig, was ich hier tue, irgendwie weiß ich das. Ich sollte mich lieber woanders schlafen legen.
Doch genau in diesem Moment versetzt Andrea mir einen Stoß und ich falle auf etwas Hartes, Kaltes. Auf meinen Kopf knallt ein Deckel, das bringt mich kurzzeitig wieder zur Besinnung. Ich wehre mich, schreie um Hilfe, drücke gegen den Deckel.
Andrea stößt laute hässliche Flüche aus und rammt mir den Deckel noch mal gegen den Kopf und ich kann nur noch nach Luft japsen und falle zurück. Die Kälte ist überall.
Immer noch fluchend hebt Andrea den Deckel wieder an, beugt sich über mich und rollt mich auf die Seite. Und jetzt wird mir klar, wo ich gelandet bin. Andrea greift neben mich und holt gefrorene Packungen und Tüten hervor und ich rutsche tiefer. In meinem Kopf donnert es, als würden hundert Tiefflieger hindurchrasen, aber mir ist trotzdem klar, warum sie das tut. Sie hat gedacht, ich wäre dünner, und deshalb hat sie nicht genug herausgeräumt aus ihrer Truhe und jetzt geht der Deckel nicht zu. Wenn ich nicht so eine grauenhafte Angst hätte, müsste ich lachen.
Ich gebe mir einen Ruck und bäume mich auf, konzentriere mich nur noch auf eines, hier rauszukommen, ich muss raus hier, sofort, aber in diesem Augenblick kracht der Deckel wieder zu und diesmal ist es endgültig. Die brutale Kälte weckt meine letzten Lebensgeister, ich trete und schlage gegen den Deckel, aber es ist zu spät. Der Deckel bewegt sich keinen Millimeter. Wie lange kann ein Mensch in einer Tiefkühltruhe überleben, frage ich mich und fange an, hysterisch zu kichern. Erstickt oder erfriert man? Aber wenn mein Herz so weiterrast, dann sterbe ich vorher an einem Herzinfarkt. Plötzlich falle ich so, wie man in Träumen fällt, steil nach unten in einen schwarzen Abgrund, wo mich eisige Dunkelheit umfängt.
Diego am Freitag, dem 8. Juni
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