Der sueße Kuss der Luege

hat. Nichts als eine billige Putze für diesen Palast, während mein Sohn hier verreckt. Aber das wird jetzt anders.« Sie betrachtet mich voller Genugtuung.
    Mir ist nicht nur übel, ich sehe auch schlecht. Und mir ist klar, dass gerade alles ungeheuer schiefgeht. Dass hier etwas ganz gewaltig nicht stimmt. Und dann endlich bequemt sich mein Hirn, Zusammenhänge herzustellen. Der schwarze Koffer, die Fotos und natürlich Emil, der auf dem Flohmarkt verschwunden ist. An Andreas Stand, an dem Andrea und Jan Gohlis sich kennengelernt haben. Und wem würde Ida denn mehr vertrauen als Andrea, die mit einem Polizisten und Emil auf sie zukommt… Mir wird schwindelig. Es gab keinen Trittbrettfahrer. Andrea hängt in der Entführung mit drin.
    »Du warst das, oder?«, lalle ich. »Aber wie…?« Ich breche ab, ich muss mich zwingen zu verstehen, weil es auch rauscht in mir drin.
    Andrea sieht so aus, als wäre es eine große Genugtuung, endlich Klartext zu reden. »Ich bin Jan zu großem Dank verpflichtet und es tut mir leid, dass er erschossen wurde. Er wollte uns nur helfen.«
    Jan? Jemanden helfen? Er war ein Verbrecher, ein mieser Kindesentführer, der fast für Idas Tod verantwortlich war.
    »Jan war auch in Afghanistan, ein guter Freund von Rainer. Und er ist genauso schäbig behandelt worden, als er wegen seiner posttraumatischen Belastungsstörung aus dem aktiven Dienst ausscheiden musste.«
    Nie im Leben. Gohlis war nie in der Armee, den Zusammenhang hätte die Polizei sofort herausgefunden und bei Andrea auf der Matte gestanden. »Gohlis war… ein Krimineller.« Fast schaffe ich es nicht mehr, Sätze zu bilden. »… er den Mund aufgemacht hat, kamen Lügen raus. Niemals bei der Bundeswehr.« Und mir fällt sogar ein, warum das unmöglich gegangen wäre. »Er war vorbestraft.« Ich spüre, wie meine Augenlider schwer werden, ich muss mich hinlegen, doch mein Instinkt sagt mir, ich sollte lieber wieder gehen. Nach Hause gehen. Oder jemanden anrufen.
    »Und Ida?«, sage ich stattdessen.
    »Ida hat alles, was sie braucht, und noch mehr. Wenn die Polizei nicht auf Jan geschossen hätte, wäre sie niemals in Gefahr geraten. Und sie hat doch auch überlebt, oder nicht?« Andrea verzieht den Mund zu einem halben Lächeln. »Mit diesem Geld können wir in der besten gesichtschirurgischen Klinik der Welt Rainers Gesicht wiederherstellen und genau dort fahren wir heute Abend noch hin. Nichts und niemand wird uns daran hindern.«
    »Polizei… wird das merken.«
    »Ich werde nicht einfach weg sein, ich bin krankgeschrieben für die nächsten acht Wochen. Ich hatte wegen all dieser Katastrophen einen leichten Herzinfarkt und bin in einer Rehaklinik. Mit Geld kriegst du jedes Attest.«
    Ich muss das stoppen, muss jetzt die Rolfs anrufen. Nein, ich muss hier raus, ich sollte lieber gehen, sollte, sollte… Aber ich kann nicht aufstehen. Meine Beine machen nicht, was sie sollen.
    »Zu dumm für dich, dass du hier aufgetaucht bist. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, die Beweise in eure Wohnung zu schaffen. Sebastian hat sicher nichts davon gemerkt. Er ist ja immer so gierig nach meiner Lasagne. Ich denke, die Polizei wird den anonymen Hinweis auf das Kühlfach gern überprüfen. Die Quittungen für den Kofferkauf und für die hübschen Seile, mit denen wir Ida gefesselt haben, das alles macht sich gut in Tupperdosendeckeln.«
    Ich falle mit lautem Poltern vom Stuhl, einfach so, habe kein Gleichgewichtsgefühl mehr, nichts. Spüre beim Aufprall einen scharfen Schmerz in meiner Wunde und werde davon wieder etwas wacher.
    Andrea beugt sich über mich, umfasst mich, hebt mich mit routiniertem Griff wieder hoch und schleppt mich durch die Wohnung. Dabei flüstert sie mir die ganze Zeit ins Ohr.
    »Du gibst die perfekte Täterin ab, und wenn du spurlos verschwindest, dann macht es das Ganze noch besser. So wird jeder glauben, dass du mit der Kohle über alle Berge bist. Die süße brave Marie-Lu! Gott, was haben wir uns alle in ihr getäuscht. Dein Leben gegen das von Rainer, ein fairer Tausch. Außerdem hast du Jan auf dem Gewissen und Jan war die einzige Freude, die Rainer überhaupt noch hatte!«
    Ihre Stimme wird immer noch leiser und kommt in wabernden Tönen an, dann wieder ganz schnell und piepsig, so, als würde jemand ihren Ton abwechselnd schneller und dann wieder ganz langsam vor- und zurückspulen. Spurlos verschwinden, verstehe ich. Aber warum sollte ich das tun?
    »Aber warum…« Mein Lallen ist mittlerweile kaum noch