Der sueße Kuss der Luege
gestärkter Bettwäsche macht mir sofort und lange, bevor meine Augen es wirklich aufnehmen, deutlich, dass mir hier keine Zauberkunststücke vorgeführt werden, sondern menschliches Elend.
In einem Krankenhausbett liegt ein Mensch mit grauenhaften Brandwunden im Gesicht. Rote, offen glänzende Stellen wechseln sich ab mit gelben flachsigen Verwerfungen. Nur die Augen scheinen unverwundet zu sein, denn sie starren mich verwundert und sogar ein bisschen neugierig an, bevor sie wie erschöpft wieder zuklappen. Die Gestalt atmet schwer und laut, als wären Pfeifen in ihrer Brust versteckt.
Alles, was ich sonst noch von Andreas Sohn sehen kann, ist bandagiert. Aber offensichtlich kann er auch aufstehen, denn neben seinem Bett steht ein Rollstuhl, ein ganz anderes Modell als die, die wir in der Efeumühle gesehen haben, viel sportlicher.
Als sie merkt, dass ich daraufstarre, nickt Andrea. »Sein Mercedes, so nennt er den Rolly. Wenn er denn spricht. Aber eigentlich steht er meistens unter Morphium, weil sich der Stumpf seines rechten Beins entzündet hat.«
»Das tut mir so leid«, flüstere ich unwillkürlich angesichts dieser Katastrophe. Auf den Bildern hat Rainer so gesund und unsterblich ausgesehen.
»Das«, sie schaut mich an, als hätte ich gerade mein Todesurteil unterschrieben. »Das tut dir leid. Aber Lu, wie vermessen, dafür kannst du nun wirklich nichts. Lass uns rübergehen, Kaffee trinken.« Leise schließt sie die Tür und geht mit mir hinüber in den anderen Raum, zu dem gedeckten Esstisch, während ich mir ganz merkwürdig vorkomme.
Warum hat sie gesagt, dass ich daran nicht schuld bin, so als ob ich an etwas anderem schuld sei? Glaubt sie vielleicht immer noch, dass ich Ida etwas angetan habe? Oder habe ich mir diesen komischen Tonfall nur eingebildet, hätte ich doch besser erst eine Runde schlafen sollen, bevor ich mich unter Leute begebe?
Wir setzen uns auf die Stühle, meiner knarzt laut unter meinem Gewicht, was mir früher peinlich gewesen wäre. Früher! Sie gießt mir Kaffee aus der Thermoskanne ein und reicht mir die Milch.
»Und, wie geht es nun Ida?«, erkundigt sie sich, als wäre alles wie immer. Aber ich komme mir wie der letzte Unmensch vor und frage mich, warum sie nie einem von uns etwas von dem Unfall ihres Sohnes erzählt hat.
»Wie lange geht es deinem Sohn schon so?«
»Dreizehn Monate und elf Tage. Immerhin ist die Infektion seiner Brandwunden abgeklungen.«
Dreizehn Monate und nie einen Ton darüber verloren.
»Aber wer kümmert sich um ihn, wenn du arbeitest? Warum ist er nicht in einem Krankenhaus?«
Die Antwort kommt pfeilschnell und glasklar. »Weil er da schon gestorben wäre. Er braucht mich und meine Pflege. Während ich arbeite, kümmern sich zwei polnische Schwestern um ihn.« Sie reicht mir die Platte mit den aufgestapelten Streuselkuchenstücken und ich nehme mir eines. »Und jetzt erzähl doch endlich, wie es Ida geht.«
Ich trinke einen großen Schluck Kaffee, habe aber keinen Hunger mehr. Irgendetwas arbeitet in mir, doch ich kriege es noch nicht zusammen. Die Fotos, Rainer der Sohn, und völlig zusammenhanglos flüstert eine dumme Stimme in meinem Kopf andauernd Emil. Ich reiße mich zusammen und sage dann, kurz bevor mein Schweigen total peinlich wird: »Ida geht es den Umständen entsprechend gut.«
»Das freut mich.« Sie gießt mir noch Kaffee nach, den ich sofort herunterstürze in der Hoffnung, dass ich dann wieder klar im Kopf werde.
»Schön, dass du mich mal besuchen kommst, auch wenn es traurig ist, dass dazu erst Ida entführt werden muss.« Sie sieht aus wie eine sehr schmale beleidigte Ausgabe der Mutter Beimer und ich fühle mich noch mieser. Die Fotos, versucht mein Hirn mir klarzumachen. Die Fotos.
»Ja, das stimmt. Aber du warst immer so zurückhaltend, deshalb dachte ich, du wolltest gar keinen privaten Kontakt.«
Ich nehme ein Stück Kuchen und beiße hinein und genau in diesem Augenblick stellt mein Kopf endlich den Zusammenhang her. Ich kenne Rainer von den Bildern, die ich in der Jagdhütte entdeckt habe, wo wir Frau Becker gefunden haben. Aber wie ist Jan an diese Bilder gekommen? Es kommt mir so vor, als wäre mein Hirn innen verkleistert, weshalb ich noch einen Schluck Kaffee nehme.
»Was hätte es geändert, wenn du es gewusst hättest? Von Mitleid kann ich mir nichts kaufen.« Andrea beißt sich auf die Lippen, wie um zu verhindern, dass sie zu viel verrät.
Ich fühle mich jetzt total heuchlerisch, denn irgendwie
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