Der Sumpf: Psychothriller (German Edition)
Junge von meinem lieben, kleinen Mädchen, und ich hab ihn sehr gern. Selbst als er nach New Jersey zurückging und sich auf einmal wie ein Straßenbengel benahm – große Klappe, nichts dahinter –, da hatte ich ihn immer noch lieb. Und nicht zu vergessen, in Wirklichkeit machte er sich gut. Er war mein College-Junge. Können Sie sich das vorstellen, Mr. weißer Reporter? Sehen Sie sich hier mal um. Meinen Sie, viele von uns schaffen es aufs College? Machen was aus sich? Wie viele? Was meinen Sie?«
Wieder schnaubte sie und wartete auf eine Antwort, die er ihr schuldig blieb. Nach einer Weile fuhr sie fort. »Das stimmte also. Mein Junge. Mein bester Junge. Mein Stolz. Natürlich hätte ich für ihn gelogen. Hab ich aber nicht. Ich glaube an Jesus, aber um meinen Jungen zu beschützen, hätte ich dem Teufel höchstpersönlich ins Gesicht gespuckt. Hatte nur keine Gelegenheit, sie haben mir eben nicht geglaubt, Schluss, aus.«
»Und was ist die Wahrheit?«
»Er war hier bei mir.«
»Und am nächsten Tag?«
»Hier bei mir.«
»Und als die Polizei kam?«
»Da war er da draußen, hat an seinem alten Wagen rumgeputzt. Er hat auch keine dicke Lippe riskiert. Keinen Ärger gemacht. Immer nur, ja, Sir, nein, Sir, und ist mitgekommen. Und was hat es ihm gebracht?«
»Sie klingen wütend.«
Die kleine Frau warf sich plötzlich auf ihrem Schaukelstuhl nach vorn und schien einen Moment vor Erregung wie erstarrt. Dann schlug sie mit den Händen so fest auf die Armlehnen, dass es durch die klare Morgenluft hallte.
»Wütend? Sie fragen mich, ob ich wütend bin? Sie haben mir meinen Jungen genommen und ihn weggesteckt, damit sie ihn töten können. Mir fehlen die Worte, um zu sagen, wie wütend ich bin. Ich kenne gar nicht die richtigen Worte, um zu sagen, was ich wirklich fühle.«
Sie erhob sich aus dem Schaukelstuhl und machte sich auf den Weg zurück ins Haus. »Hier drin ist nur noch Hass und Bitterkeit. Hier drin fühlt es sich nur noch leer an, Mr. Reporter. Schreiben Sie das.«
Damit verschwand sie im Dunkel der Hütte und zog mit einem lauten Knall die Tür hinter sich zu, während Matthew Cowart ihre Worte auf seinem Notizblock festhielt.
Als er bei der Schule eintraf, war es Mittag. Der Bau entsprach recht genau seinen Erwartungen: ein phantasieloser Klotz, an dessen Eingangsseite eine amerikanische Flagge schlaff in der feuchten Luft hing. An der Seite standen gelbe Schulbusse, dahinter lag ein Pausenhof mit Schaukeln und Basketballringen, alles ein wenig verstaubt. Cowart stellte den Wagen ab und ging zur Schule hinüber, wo ihm eine Woge aus lauten Kinderstimmen entgegenschlug. Es war Mittagspause, und hinter der Flügeltür herrschte eine überschaubare, fröhliche Anarchie. Ausgelassen flitzten die Schüler mit Papiertüten oder Pausendosen herum. Die Wände waren mit ihren Kunstwerken geschmückt – kräftig aufgetragene Farben und einfache Formen nach Themen oder Techniken gruppiert; ein kleines Schildchen darunter verriet, was dargestellt war. Einen Moment lang starrte er auf die Bilder und dachte an all die Zeichnungen und Collagen aus Buntpapier, die er mit der Post von seiner Tochter bekam und die jetzt die Wände in seiner Bürokabine schmückten. Er lief weiter durch die Eingangshalle zu einer Tür mit der Aufschrift VERWALTUNG. Als er näher kam, öffnete sie sich, und zwei Mädchen stürmten heraus, die verschwörerisch und kichernd die Köpfe zusammensteckten. Das eine war schwarz, das andere weiß. Er sah ihnen den Flur entlang hinterher. Dabei fiel ihm ein kleines gerahmtes Bild an der Wand ins Auge, und er ging hinüber, um es sich näher anzusehen.
Auf dem Foto war ein Mädchen, mit blondem Haar, Sommersprossen und einem strahlenden Zahnspangengrinsen zu sehen. Die Kleine trug eine saubere weiße Bluse und ein Goldkettchen um den Hals. In der Mitte des Kettchens war der Name »Joanie« eingraviert. Auf der kleinen Plakette unter dem Bild stand:
Joanie Shriver
1976–1987
Unsere Freundin und geliebte Mitschülerin
Sie wird uns allen für immer fehlen
Er brannte sich das Bild ebenso wie die anderen Beobachtungen und Erkenntnisse ins Gedächtnis ein. Dann machte er kehrt und betrat das Verwaltungsbüro.
Drinnen sah eine Frau mittleren Alters, die einen etwas gestressten Eindruck machte, hinter einer Empfangstheke auf. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ja, ich möchte zu Amy Kaplan.«
»Sie war eben noch da. Werden Sie erwartet?«
»Ich habe mit ihr telefoniert. Mein Name ist
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