Der Sumpf: Psychothriller (German Edition)
Beweise nimmt erst recht keiner ernst. Das Einzige, wofür sich die Leute interessieren werden, ist die Frage, wieso wir hierhergekommen sind und einen Mann erschossen haben. Einen unschuldigen Mann, schon vergessen? Einen unschuldigen Mann. Wenn er dagegen entkommt …«
Cowart sah Brown aufmerksam an und überlegte: Es ist vorbei. Aber es ist nie vorbei. Er holte tief Luft. »Dann ist der Schuldige auf der Flucht«, führte er den Satz des Polizisten zu Ende.
»Genau.«
»Und es geht weiter. Er wird gejagt, die Suche hört nie ganz auf. Antworten, Erklärungen …«
»Die Menschen wollen Antworten hören. Und Sie werden sie ihnen geben. Genauso wie ich.«
Cowart hatte das Gefühl, als atmete er pure Hitze ein, die seine Zunge verbrannte. »Er ist tot. Sie haben ihn erschossen …«
Brown sah Cowart an.
»Ich habe ihn erschossen«, fuhr der Reporter fort.
Er überlegte einen Moment und fügte das Offensichtliche hinzu: »Wir haben ihn erschossen.«
Wieder holte er tief Luft.
Ihm wirbelten tausend Gedanken durch den Kopf. Es war Vormittag, und die Hitze wurde unerträglich. Er sah Ferguson vor sich, hörte Blair Sullivans amüsierte Stimme, die ihn fragte: Habe ich auch Sie getötet, Cowart?, und beantwortete sie in der Hoffnung, dass es stimmte, mit nein. Die Erinnerungen brachen über ihn herein – an seine Familie, sein eigenes Kind, das ermordete Kind, die verschwundenen Kinder und all die anderen Dinge, die geschehen waren. Es ist ein Alptraum, dachte er. Sagst du die Wahrheit, wirst du dafür bestraft. Mit einer Lüge dagegen wird alles gut. Er merkte, wie er den Halt verlor, als lösten sich seine Finger vom Rand einer Klippe. Dabei hatte er sich die Steilwand selbst ausgesucht. Er nahm alle Kraft zusammen und stellte sich vor, wie er einen Eispickel in den Granit rammte und seinen Sturz aufhielt. Du kannst damit leben, redete er sich gut zu, allein. Dann drehte er sich zu Tanny Brown um, der Andrea Shaeffers durchtränkten Verband überprüfte, und begriff, dass er sich in diesem Punkt täuschte. Diesen Alptraum würde er mit jemandem teilen. Sein Blick wanderte zu Shaeffer. Ihre Wunde, musste er denken, wird wenigstens vernarben und heilen.
»Nein«, sagte er nach einer Weile. »Er ist uns entwischt.«
Tanny Brown schwieg.
»Wie Sie schon sagten. Durch den Sumpf. Wenn sie dort nach ihm suchen, wird ihn niemand finden. Wer weiß, wo er untergetaucht ist. Atlanta. Chicago. Detroit. Dallas. Wo auch immer.«
Er beugte sich herunter, schob der verwundeten Polizistin behutsam eine Schulter unter den Arm und richtete sie auf.
»Schreiben Sie die Reportage«, sagte Brown.
»Ja, verlassen Sie sich drauf«, erwiderte Cowart.
»So, dass man Ihnen glaubt«, fügte der Polizist hinzu.
»Keine Sorge, ich werde sehr überzeugend sein«, sagte er ohne Groll.
Brown nickte.
Matthew Cowart machte sich mit Andrea Shaeffer langsam auf den Weg zurück in die Zivilisation. Sie lehnte sich an ihn. Er spürte, wie sie vor Schmerzen die Zähne zusammenbiss, doch sie klagte nicht. Unter dem Gewicht der angeschossenen Polizistin arbeitete es fieberhaft in seinem Kopf. Schreib es so, dass sie eine Belobigung für Tapferkeit bekommt. Alle Welt soll erfahren, wie sie sich einem sadistischen Killer entgegengestellt hat und dabei verwundet wurde. Eine heldenhafte Polizistin. Die Jungs vom Fernsehen würden ihm aus der Hand fressen. Die von den Boulevardblättern auch. Sie bekommt die Chance ihres Lebens. Sowie der erste Artikel in seinem Kopf vage Konturen annahm, fühlte er sich gestärkt. Er sah die Worte, die Schlagzeilen, die hochmoderne Druckerpressen im Sekundentakt ausspuckten. Er legte Shaeffer den Arm um die Taille. Er war vielleicht drei Meter weit gekommen, als er sich noch einmal umdrehte und sah, dass der Lieutenant immer noch am Rand der Lichtung stand.
»Ist das rechtens?«, platzte der Reporter heraus und war über die Frage selbst verblüfft.
Brown zuckte die Achseln. »Bei dem Fall war von Anfang an nichts rechtens. Aber wir hatten auch von Anfang an keine Wahl.«
Cowart nickte. Das war die einzige Wahrheit, mit der er leben konnte. Ohne zu lächeln, sagte er: »Ein merkwürdiger Zeitpunkt, um es zur Abwechslung mit gegenseitigem Vertrauen zu versuchen.«
Dann drehte er sich um und konzentrierte sich darauf, die verletzte Frau in Sicherheit zu bringen. Sie stöhnte leise und stützte sich auf ihn. Es war eine winzige, selbstverständliche Geste, doch wenigstens einen Menschen konnte er vor
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