Der Symmetrielehrer
mütterlichen Ozeanbett waren sie nacheinander krank, erst bekam der Bruder seine Einsen, solange Bartholomäus krank war, dann Bartholomäus seine Fünfen, solange der Bruder krank war. Für die Zeit der Krankheit wurde überm Bett einmal eine Karte des britischen Imperiums aufgehängt, eigentlich eine Weltkarte, damals noch zu drei Vierteln grün, und später nicht mehr abgehängt. Der ältere Bruder überzog sie bunt mit Routen und Minuten, und so behielt ihn Bartholomäus sein Leben lang im Gedächtnis: auf dem Bett, den Hals umwickelt, auf Knien liegend vor dem Imperium, wie er im Kopf Zoll mit Grad malnimmt. Die Brüder wuchsen heran, das Imperium zerfiel und bleichte aus; in der Ecke, dicht beim Kissen, waren Feuerland und Patagonien besonders zerfleddert (tauchten sie vor seinen Augen auf, war es das erste Symptom einer beginnenden Krankheit, und das bis ins Alter). Je mehr die Gesundung voranschritt, desto höher wanderte der Blick, auf Europa zu, auf den italienischen Stiefel zu, noch höher, der auf Knien liegenden Ostsee zu, die Russland anflehte, ihr den Finnischen Meerbusen abzunehmen … Und der letzte Tag, die Prügelei mit Schlappen und Kissen, kopfunter und fußüber: der Stiefel Neuseeland, das Gegenstück zum italienischen, aber einsam, in die entgegengesetzte Ecke der Welt geworfen, gleichsam aus Zorn, gleichsam als Beweis, wie vorherbestimmt die Aufteilung der Welt … Die Brüder waren nicht mehr krank, nun alterte die Mutter unterm immer gebrechlicheren Imperium.
O Imperium!
Solange der Bruder in diesem Leben der Primus war, solange
er Oxford nach Cambridge, Sprache um Sprache, Titel um Titel abhakte, sie auffädelte wie der Jäger Trophäen, wie der Wilde Glasperlen – fädelte ich nicht ebenso, o Imperium! auf meine Halskette deine Bahamas, deine Philippinen, deine Antillen auf! Sammelte ich denn nicht in den Savannen deine Kräuter und fing in den Wüsten deine Schlangen? hatte ich denn nicht, dank Kräutern und Schlangen zu Ersparnissen gekommen, reich zu werden versucht an deinen Diamanten und Smaragden, deinen Stoßzähnen und deinem Gold? war es denn nicht mein Scherz gewesen, auf die Frage: »Wozu brauchst du Gold?« zu antworten: »Um Gold zu finden«? habe ich nicht alles, was ich mir aneignete von dir, auch wieder verausgabt an dich – in deinen Bordellen, Spelunken und Räucherhöhlen, in Singapur, Melbourne und Delhi? Haben nicht mich deine Negerinnen, Malaiinnen, Inderinnen geherzt? Wo bist du, Imperium?! Was hast du angerichtet, Bruder? Weshalb ist mein Leben das deine und deines das meine? Oder haben die Japaner recht, dass das Leben zwei Hälften hat und man über vierzig den Namen wechseln sollte? Sind sie Schwestern, diese beiden Lebenshälften? oder sind sie genauso Schwestern, wie wir beide Brüder sind? Weshalb schüttelt dich jetzt das Fieber, in Hinterhöfen, die abgefallen sind vom Imperium? was brauchen die befreiten Zulus dein Katholikentum? was jagst du meinem Kreuz nach und hast deines mir aufgeladen?
So klagte der heutige Bartholomäus, wenn er die Weltkarte betrachtete, die nicht mal noch viertels so grün war wie zu seinen Zeiten, nicht mal noch halb so grün wie zu Zeiten von Bartholomäus dem Mittleren, seinem schon erwachsenen Sohn, und für das Barthelmäuschen, den Jüngsten, war kaum noch was übrig, da sich der satte Smaragdglanz des Imperiums zum kindlichen Salatgrün von Durchfall abgeschwächt hatte, da zwischen den zyklopischen Imperiumstrümmern nun Staatensprößlinge jung wie Frühlingsranken aufblitzten … und bloß dank ihrer Zerfleddertheit erinnerte die Weltkarte Bartholomäus jetzt an jene Welt, die Karte seiner Kindheit. Sogar zerfleddert war sie jedoch von der anderen Ecke her, vom losgerissenen, immer noch sanft grünen neuseeländischen Stiefel
her, denn der Erbprinz hatte, krank, den Kopf auf der anderen Seite liegen gehabt …
O Sohn! Drei Photographien hingen nebeneinander, des Königs ganzer Stolz: die erste gelblicher, die letzte glänzender als die mittlere. Die drei Bartholomäen, als wäre es einer: König, Prinz und Jüngster – dasselbe Gesicht! Als wäre nicht der König gealtert, sondern gealtert nur die Matrosenbluse – damals trug man solche noch nicht, heute trägt man solche nicht mehr; er hatte sie weitervererbt, vom älteren zum jüngeren.
Bartholomäus bekam Sehnsucht nach dem jüngeren, während er den älteren Sohn betrachtete.
O Sohn! mein Lockenkopf von dem abgeblassten Photo, von dem du bis heute
Weitere Kostenlose Bücher