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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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sich zu befinden hat.
    Schon im Regenmantel und mit Schirm schaute er beim Sohn vorbei. Der Prinz schlief auf der Bettdecke, angekleidet. Wieso war dann das Mädel ausgezogen gewesen? spöttelte traurig der König. Aber die Favoritin war nicht mehr da – ent
schlüpft, Bartholomäus hatte es gar nicht gemerkt. Im Zimmer roch es drückend nach Stoff. Der König runzelte die Stirn, riss das Oberlicht auf und hüllte den Prinzen in ein Plaid. Der Prinz tat keinen Mucks, lag wie leblos, die spitze Nase zur Decke gereckt, genauso das spitze Kinn, genauso die spitze Brust – Bartholomäus kam es beim Einhüllen so vor, als wickelte er einen Vogel in das Plaid. Der König seufzte und legte fünf Francs aufs Tischchen, seufzte erneut und fügte noch fünf hinzu.
    Bereits an der Tür war der König, da geruhte Wassili der Blinde zu erwachen (so genannt zu Ehren eines Moskauer Fürsten aus dem 15. Jahrhundert, hauptsächlich darum, weil Bartholomäus noch nicht eindeutig geklärt hatte, wie der Fürst zum Beinamen »der Blinde« gekommen war) und tappte ihm unter Gähnen und Miauen, fordernd und schwergewichtig, entgegen – ein riesiger, frostiger, von Geburt blinder weißer Kater, von wegen Kater: ein Bär! Der König ließ den Schirm fallen, während er ihm einen Fisch holte, als Kredit für den Tag, streichelte ihn dann mit schlaffer Tyrannenhand, erschöpft von der Macht, und seufzte erneut: Wer auf Gottes weiter Welt verfügt über noch mehr Macht als der Zar? … Sein geliebter Kater.
    Jetzt hatte er alles, die Köchin Madeleine käme gegen zwölf, und bis zu ihrem Kommen würden alle drei überleben.
    Die Treppe stieg der König zu Fuß hinab (der Lift funktionierte nur aufwärts). Unten schaute er nach der Post; kein Brief von seiner Frau, dafür ein neuerliches Bündel Rechnungen, was seinen letzten Seufzer hervorrief: »Uff!«
    »Schluss damit!« sagte er sich aufgebracht. »Ich muss mir das endlich verbieten!«
    »Und was ist das ?« hörte er quasi jemanden sagen.
    »Ich muss aufhören, zu mir selbst ›Uff!‹ zu sagen.«
    »Euer Majestät, verlangen Sie von sich nichts Unmögliches.«
    Wie wir sehen, hatte sein Gefühl für Humor, auf das er in aller Bescheidenheit stolz war, ihn wirklich nicht verlassen. Auch gefiel ihm das neue Briefkastensystem, das vorgestern angebracht worden war – Schutzanstrich, die Schlösschen vernickelt, erinnerte es ihn an ein großes Mietshaus und zugleich
an ein Kriegsministerium, aber auch an das Periodensystem der Elemente (viele Leute behaupten ja, das sei russisch …). Alle Nummern in Reih und Glied, Schlösser und Schlitze im Lot, in strenger Ordnung, und nur die Königsnummer schert aus, wie es sich auch gehört für eine Königsnummer: alle nacheinander bis zweiunddreißig, dann seine, die Achtundzwanzig. Mit Russland musste er sich heute übrigens noch auseinandersetzen; mittags hatte er für Paul I . höchstpersönlich eine Audienz anberaumt sowie für einen namhaften russischen Feldherrn. Und so, unter dem nicht abzuschüttelnden Gedanken, dass er sich nie wieder zu einem Geplänkel mit Napoleon [ 52 ] herablassen würde, handelte er sich Verspätung im Dienst ein.
    Paris mochte er auch nicht. Wenn nicht seine Frau … und da wurde die Geschichte alternativlos: die Kinder. Sein Wunschtraum war, mit dieser Arbeit, dem Erfahrungsaustausch zwischen zwei Enzyklopädien, zu Ende zu kommen, um dann, befördert, in die Heimat zurückzukehren und an einer Kurzfassung der Britannica für die Jugend zu arbeiten.
    Nein, weder in einem Mietshaus noch in einem Ministerium würde er jemals wohnen (selbst wenn sie ihm ein ganzes Stockwerk überließen). Er wird in die Heimat zurückkehren, mit ausreichendem Gehalt, für den Anfang mietet er sich ein kleineres Haus in einer grünen Vorstadt, dort jedoch … dort wird er sich alles einrichten, wie er es sein Leben lang erträumt hat. Unten wären Frau und Kinder, hinuntersteigen würde er nur zum Essen – schlichtes, vollkommenes Familienglück. Oben jedoch, und wäre es nur ein bescheidener Speicher, aber dort! dort wäre das wahre Reich von Bartholomäus I .!
    Also, bei einem schlichten Schreiner wird er sich einen langen T-förmigen Schreibtisch bestellen und Regale, auf die nur sorgfältigst ausgesuchte Bücher kommen, nur, was er für die Arbeit an der Britannica dringend braucht, und für unmittelbar neben dem Schreibtisch wird er sich, um überhaupt nicht aufstehen zu müssen, bei einem echten Könner ein Drehregal

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