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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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eigener Erfindung bestellen, und dort wird der ganze Shakespeare stehen und alles über Shakespeare.
    Unten also werden sie wohnen, wird gekocht, geputzt, gewaschen, und er würde wissen, alles ginge seinen Gang, alles wäre in Ordnung, oben jedoch wird er sein Drehregal drehen und ohne hinzuschauen das Buch finden, das er braucht. Zu ihm nach oben würde eine Treppe führen, und die wäre hochziehbar wie in einem Schloss. Und nur er selbst hätte das Recht, sie hochzuziehen und herabzulassen.
    So stellte sich König Bartholomäus das vollkommene Königsglück vor. Das derart klare Bild versetzte ihn endgültig in gehobene Stimmung.
    Unerkannt wie Harun al-Raschid und ohne sich von einem gewöhnlichen Angestellten zu unterscheiden, glitt König Bartholomäus, vor neugierigen Blicken unterm Schirm verborgen, rasch über die nassglänzenden Gehwegplatten, als fahre er Schlittschuh; heute sollte der Dieb Seiner Majestät endgültig seine Schuld bezahlen oder freimütig sein Vergehen gestehen.
    Zum Hofwürdenträger war der Dieb gewiss schon vor fünf Jahren erhoben worden, als er Bartholomäus bestohlen hatte. Die Geschichte stellte sich aus jedem Blickwinkel einfach dar, nur nicht aus dem königlichen. Zwar schaltete und waltete Bartholomäus über historische Geschicke und versetzte Gestirne, doch nur höchst ungern hielt er über Menschen Gericht. Denn Bartholomäus hatte einen Bruder.
    Richtiger gesagt: Bartholomäus war Bruder.
    In welchem Augenblick hatte das Schicksal die beiden verwechselt? so dass Bartholomäus' Schicksal dem Bruder zufiel und das Schicksal des Bruders Bartholomäus? Eigentlich hätte der Bruder den Herrscher geben und Bartholomäus auf Wanderschaft gehen müssen, doch es kam umgekehrt. Sie waren
beide ein Zwilling, aber der Bruder war älter, und nach sämtlichen Grundsätzen der Thronfolge …
    Ach, und überhaupt! Bartholomäus hatte von den Windeln an die Vorrechte und Verantwortungslosigkeiten des Jüngeren genossen, während der Bruder von der Kleinkinderschule an auf seinen gar nicht breiten Schultern die Verpflichtungen des Thronerben trug. Es war Bartholomäus, der wenig später zum schlechten Schüler wurde, während sein Bruder schon Primus war. Es war sein Bruder, der über ein phänomenales Gedächtnis verfügte, im Kopf dreistellige Zahlen malnehmen und die Enzyklopädie auswendig hersagen konnte, ebenso die Stammbäume aller bedeutenden Geschlechter Albions und das wuchtige Kursbuch der Transatlantiklinien; schon im Alter von fünf gab er, genau nach Fahrplan, für jeden Hafen das Ankunftssignal, indem er die gemeinsame Kindertrompete blies. Wo sind wir? mussten Sie nur fragen, und er gab Ihnen exakt Antwort, ob in Trinidad oder auf Mallorca, danach brauchten Sie nur noch aufs Zifferblatt zu schauen und dann ins Kursbuch – sowohl die Stunden wie die Minuten stimmten überein, der Bruder war nie zu spät dran; der kleine Barthel aber hörte ihn nicht mehr … der stand ganz vorn am Bug, blickte unverwandt auf die Umrisse der unbekannten Bucht, und sein Herz sprang schon vor ihm ans Ufer, obwohl, auch er selbst sprang als erster von der ganzen Mannschaft: Mulattinnen, Kokospalmen, weiße Hosen … Ach, und überhaupt! Schon im Kinderwagen hatte der Bruder, ohne zu stocken, alle Aushängeschilder vom Ende bis zum Anfang gelesen: »Nedalruesirf! Snosdnarevooh! Sedypsiloniksdablju«, hatte das Alphabet heruntergerattert, »disibiej!«. Das Barthelchen aber hörte und sah den Bruder nicht mehr, denn in unzugänglichem Urwald, unterm Kreischen von Papageien und Affen, war es umringt von Wilden, die ihre Pfeile und Speere gegen seine offene breite Brust richteten und in einer unbekannten Sprache drohten: Eppirg! Niripsareuab! – und drei Fingerbreit vom Herzen entfernt bohrte sich der tödlich blitzende, eisige Keil des Thermometers in seine Achselhöhle. Eine langsame Karawane schleppte sich endlos durch die Hitze von Patagoniens Todes
wüste, der Angina, den kleinen Barthel wiegte das gemessene Schreiten des Dromedars und das Klingen seines Glöckchens. Inmitten des unablässigen Klingens reihte sich Fata Morgana an Fata Morgana – Palmen im Ozean, Tanger, Bangkok, Sidney … Da läutete der ältere Bruder an seinem Ohr das Glöckchen, kündete vom Ablegen der »Queen Elizabeth« aus Sidney, exakt um drei Uhr dreißig. Eine Woche später lief das Schiff wohlbehalten in die Bucht der Gesundheit ein, und Bartholomäus sprang ans Ufer; nun ging der ältere Bruder an Bord. Im

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