Der Symmetrielehrer
weshalb gleichauf mit Cervantes, am selben Tag, und warum starb er am Geburtstag … oder wurde er geboren am Todestag? Und was war der Vater, Metzger oder Handschuhmacher? Und wer sind Bacon, Marlowe, Lord Southampton – gab es die überhaupt? Waren sie nicht alle – einzig und allein William? Und welches von den sechsundzwanzig Porträts ist echt? Natürlich das »Janssen Portrait«, würde der Vater sagen. Warum? Weil es das schönste ist. Auf gar keinen Fall das »Hampton Court«: Schwert, Gürtel, Ring am Finger, Handschuh in der Hand … ein Weihnachtsbaum, aber nicht
Shakespeare! alle überzeugt dieser Handschuh, was sonst – als hätte ihm diesen Handschuh sein Vater genäht …
Die Erörterung, ob die Porträts echt seien, ist das letzte, was Bartholomäus vom Vater in Erinnerung hat. Denn der Vater stirbt an einem Infarkt, überlebt Bartholomäus' neuerliche Flucht nicht, während dieser zu der Zeit am Isthmus von Panama bis zum Hals im Sumpf sitzt … und so glücklich ist, wie er noch nie im Leben glücklich war. O Frau!
Bartholomäus war damals mit einer interdisziplinären meereskundlichen Expedition geflüchtet, hatte sich zum Zeichnen von Gräsern, Scherben und Nestern anheuern lassen, besonders angetan hatten es ihm jedoch die Zeichnungen von Kopffüßern oder Hautflüglern, dem Spezialgebiet einer sehr netten Naturforscherin. Und da sitzen sie nun zu zweit in stockfinsterer Nacht bis zum Hals in einem panamesischen Sumpf und lauern auf den Gesang eines einzigartigen Frosches, um ihn mit dem Phonographen aufzuzeichnen für ihren Professor, einen weltberühmten Spezialisten für Hohltiere, den seine Gliederkopffüßer allerdings viel weniger erregen als sein Hobby, seine Kollektion von Hochzeitsgesängen der Frösche, und ebendieser Frosch singt einmal in hundert Jahren zu ebendieser Stunde und in ebendiesem Teich, das heißt, er ist ein Synonym für ein Glück, das mit entsprechender Periodizität vorkommt, und von ihm hängt die gesamte Zukunft der Naturforscherin ab, sowohl die wissenschaftliche wie auch diejenige, die Bartholomäus ihr in diesem Moment antragen kann (neun Monate später sollte sie einen Sohn zur Welt bringen, sich aber weigern, ihren Nachnamen gegen den von Bartholomäus einzutauschen, da sie selbst aus vornehmem Geschlecht stammt und drei Lilien im Wappen trägt). Und am nächsten Tag sollte Bartholomäus das Telegramm vom Tod des Vaters erhalten …
Nach WILLIAM schlägt Bartholomäus nicht gleich den Band zu, sondern steigt noch eine gewisse Zeit, wenn auch schneller, wie sich das gehört beim Abstieg, über die Stufen der Wörter hinab. SHALLOT (Allium ascalonicum), kultiviert schon zur Zeit des frühen Christentums, vielfach verwendet bei der Zubereitung von Fleisch (wahrscheinlich war sein Vater doch
Metzger und nicht Handschuhmacher), es gibt zwei Sorten, die gewöhnliche Schalotte und die von Jersey oder auch die russische (irgendwie sollten wir auch Russland nicht vergessen). SHAMANISM , die Religion uralo-altaischer Stämme (erneut Russland). SHAMBLES , Schlachterei für koscheres Fleisch (vielleicht ja Metzger, aber bestimmt nicht Jude). SHAMYL , Führer kaukasischer Bergvölker im Krieg gegen Russland (schon wieder!). SHANGHAI , na endlich (dort hinten, jenseits von Russland).
Heute war der Tag des Diebes und des Wesirs. Bartholomäus hatte erst lange nicht darauf geachtet, dass er diese beiden, ihn ständig belastenden Dinge zusammenzufassen bestrebt war. Der Dieb sollte den Rest des Betrags auszahlen, den er Bartholomäus einst gestohlen hatte, und der Wesir das Budget von Bartholomäus' Hofstaat erhöhen. Bartholomäus musste es zum einen wie zum anderen schaffen und wenigstens zur Audienz mit Paul I. nicht zu spät kommen.
Auf dem Raum dieses Papiers lässt sich kaum einigermaßen eingängig erklären, wie es zu Bartholomäus' so ausgefallenem Verhältnis zu seinem Dieb gekommen war. Vielleicht ist das eine eigene Geschichte. Des Zusammenhangs wegen sei lediglich skizziert, dass an jenem Tag, als das tragische Verschwinden des älteren Bruders bekannt wurde und die Königinmutter vor Kummer erkrankte, Bartholomäus sich die Renovierung ihres Zimmers einfallen ließ, um für die Kranke eine Atmosphäre zu schaffen, die ihrer Gesundung förderlich wäre. Insofern Bartholomäus aufgrund der dramatischen Familienereignisse nicht ganz bei sich war, beauftragte er ohne jede Empfehlung den erstbesten Türken und ließ ihn dazu noch allein in der Wohnung,
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