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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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und sie nicht einzuholen, schreckte ich auf und erblickte Dika. Sie küsste mich und gratulierte mir. Wozu? – ich hatte alles vergessen. Sie hatte es gelesen. ›Es ist großartig.‹ Ah, ich Esel! alles hatte ich vergessen. Ich klatschte mir gegen die Stirn, sah, dass ich angezogen war, und ohne mich zu waschen, rannte ich auf die Post. Dort erwartete mich ein Telegramm von Helena, sie habe dumm und dämlich auf mich gewartet, den ganzen Tag, und sei abgereist, und ich solle ihr bloß nicht mehr schreiben. Ich las noch einmal das vorherige Telegramm und erkannte, dass ich die
Tage verwechselt und sie vor Ungeduld einen Tag früher, vor ihrer Anreise, erwartet hatte, also hatte sie mich dann am nächsten Tag erwartet, während ich meinen Roman abschloss … Seltsamerweise fand ich mich leicht mit dem Verlust ab, da ich mir sagte, ohnehin sei sie nicht die Rechte gewesen, eigentlich auch nicht dermaßen ähnlich. Ich rieb mir das Kinn – fürchterlich zugewachsen war ich in diesen drei Tagen! Ist Ihnen aufgefallen, dass der Bart doppelt so schnell wächst, wenn man die Nacht durch schreibt? Es war einfach ungehörig, mit solchen Bartstoppeln außer Haus zu gehen, das erkannte ich am befremdeten Blick der Postbeamtin. So begab ich mich zum nächsten Friseursalon.
    Ich nahm ringsum nichts wahr, ließ mich, ohne hinzuschauen, in einen freien Sessel fallen, warf den Kopf zurück und schloss die Augen. ›Schlafen Sie?‹ wurde ich zärtlich gefragt. Ich öffnete die Augen – und wusste nicht mehr, in welchem Traum ich schlief: vor mir war ein Spiegel! Wie auch nicht, in einem Friseursalon! doch in jenem Augenblick war ich dermaßen versunken, hatte dermaßen keinen erwartet, dass er mich verblüffte. Der Spiegel zeigte ein unrasiertes und zerknittertes Gesicht, quasi fremd. Und fremd, wie es war, erinnerte es mich sehr an jemanden. Ein jeder kennt diesen verdrießlichen Kitzel des Entsinnens … Im übrigen war das nur der Bruchteil einer Sekunde, sogleich zermalmt unterm nächsten Bruchteil: Rechts über mir erblickte ich IHR Gesicht! Nicht erneut, nicht noch einmal … das war keine Ähnlichkeit mehr: völlige Übereinstimmung. Völlige Übereinstimmung gibt es nicht, also – SIE . Zwei Dinge bestätigten das unumstößlich: erstens mein eigenes Gesicht, das ich danach im Spiegel ertappte – was soll ich von seinem Ausdruck sagen! Es war exakt der von der Photographie. Und zweitens, als ich den Blick erneut von meinem Spiegelbild auf ihres richtete, da sah ich, dass wir beide uns zudem auch hinten spiegelten, im Spiegel gegenüber, der sich in unserem spiegelte … Mein morgendlicher Traum. Wirklichkeit geworden … prophetisch … Ich sah sie an, sie lächelte fröhlich und liebevoll, lachte beinahe. Ich brauchte nur den Kopf nach rechts zu drehen – und hätte
sie LEBENDIG erblickt! Mein Hals war aus Holz, mir schlug das Herz, ich konnte den Blick nicht von ihrem Spiegelbild wenden, als ob es verschwinden könnte. Es verschwand nicht, es veränderte sich, lächelte, wunderte sich, war befremdet – es lebte! Mir knackte es im Hals, ich wandte mich zu ihr um – sie war nicht verschwunden. Ich weiß nicht, was ich empfand, Erleichterung? Beklemmung? Freude? Enttäuschung? Freiheit? … Freiheit empfand ich, das war es. Wir waren von Spiegeln umgeben, hundertfach ineinander wiederholt. Ins Unendliche entschwanden diese Spiegelungen der Spiegelungen. Und sie lachten, die Spiegelungen, weil wir lachten. Zuerst musste ich wegen dieses Wortes ›Freiheit‹ lachen, und sie, was weiß ich, weshalb, reagierte darauf so bereitwillig, vielleicht fand auch sie es komisch. Ich lachte über mich, sie ebenfalls über mich, die Spiegel über uns. Was macht es schon, dass sie einen weißen Mantel anhat, kein Kleid, immerhin ein Friseursalon! was macht es, dass es kein Geschäft ist, sondern ein Friseursalon – ein Friseursalon ist auch eine Art Geschäft, was macht es, dass es kein Schaufenster ist, sondern ein Spiegel – wir spiegeln uns doch! Jedes dieser Argumente brachte mich zu einer neuen Lachsalve, die Übereinstimmung mit der Photographie war wie eine Parodie. Aber was parodierte was? ›Ah, das ist unwichtig‹, dachte ich erleichtert. ›Es gibt noch eine dritte Bestätigung: Sie ist die dritte.‹ Die Magie der Zahl drei machte keine weiteren Beweise erforderlich. Ich musste ein letztes Mal lachen, und es kam mir vor, als reagierte sie darauf nicht einfach mit fröhlichem, sondern mit glücklichem

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