Der Symmetrielehrer
nicht auf. Ich erkundigte mich bei der Auskunft nach der Ankunft des Zuges, der war längst eingetroffen, ein Absagetelegramm lag auch nicht vor. Spätabends kehrte ich völlig verzweifelt nach Hause zurück, und erst als ich Dika gegenüberstand, merkte ich, dass ich diese alberne Rose in der Hand hielt. Mich packte rasende Wut, noch eine Sekunde, und ich hätte … ›Ist sie angekommen?‹ fragte Dika ruhig, ohne eine Spur von Zweifel. ›Nein‹, antwortete ich, plötzlich genauso ruhig. ›Das ist für
dich.‹ Ich überreichte ihr die Rose, küsste sie, umarmte sie, triumphierte. ›Ich hab's! Endlich hab ich's, wie alles ausgeht!‹ Ich stürzte zum Tisch und schrieb fieberhaft bis zum Morgengrauen und den ganzen nächsten Tag. Nicht aus irgendeinem Zufall sprengt mein Held sich nicht in die Luft, sondern – weil. Weil jedes Ziel einer Fortsetzung wegen angestrebt wird, er jedoch hat keine Fortsetzung. In seinen Kalkulationen hatte alles gepasst – und das war's denn auch. Und nichts weiter. Nicht weil er einen Schreck bekommen hätte, nicht, weil ihn jemand abgehalten hätte, sondern weil es keinen Grund mehr gibt, sprengt er sich nicht in die Luft, vielmehr verlässt er still das Bankett und wandert durch die Nacht, endgültig jenseits des Lebens. Dieses Finale gelang mir besonders gut: wie er an die Meeresküste tritt, die Nacht ist sternen- und mondlos, vollkommene Finsternis, er steht vor dieser Schwärze wie vor einem Abgrund und knöpft sich den Hosenschlitz auf, holt nacheinander seine Granaten heraus und schleudert sie ins Meer, und sie bersten dort in der Finsternis wie durchgebrannte Glühbirnen. Dieses Symbol gefiel mir ungeheuer – was er da in Wirklichkeit fortgeworfen hatte …
In Kleidern fiel ich aufs Bett und schlief sechzehn Stunden hintereinander. Ich hatte einen schönen und sonderbaren Traum, mir träumte, ich wäre mit einer Touristengruppe in Japan. Das Erstaunliche an Träumen ist ja ihre Fraglosigkeit. Vor uns lag eine Bucht, die ich in Griechenland gesehen hatte, dennoch war es Japan. Die Bucht war von wunderschönen Felsen umgeben, von dort stiegen wir im Gänsemarsch hinab zum Meer. Unser Pfad war sehr bizarr, was offenbar bestätigte, dass ich in Japan war, obwohl Japan vielleicht daher kam, weil mein Urgroßvater mit einer Japanerin verheiratet war. Unser Pfad entwickelte sich dergestalt, dass wir allmählich von Stein zu Stein springen mussten. Nun wurde klar, dass wir uns in einer besonderen Spielart der berühmten japanischen Gärten befanden, dass diese Steine künstlicher Herkunft waren, auf alogisch japanische Weise verlegte Steinplatten, mit denen man Fußgängerwege pflastert. Beim Springen von Platte zu Platte, mal nach links, mal nach rechts, mal sogar nach rückwärts,
musste man besonders genau sein, um nicht danebenzutreten, denn zwischen den Platten waren nicht einfach Stäucher oder Gras, sondern winzige japanische Gärtchen, lebendiges Ikebana, das zu zerstören einfach eine Sünde gewesen wäre. Von der Springerei fasziniert, merkte ich auf einmal, dass ich mich verirrt hatte. Verirrt tatsächlich in einem dieser Gärtchen, denn zwischen zwei Steinplatten, der, auf der ich stand, und der, auf die ich springen musste, erblickte ich unter mir plötzlich jene Bucht, jenes Meer, zu dem wir hinabgestiegen waren. ›Wir‹ war jedoch ungenau, denn die ganze Gruppe befand sich bereits unten, zerstreute sich über den schmalen Küstenstreifen, wollte wohl baden gehen, während ich immer noch oben war, auf den Felsen. Ich stürmte Hals über Kopf hinab, um die anderen einzuholen, in Riesensprüngen, das war leicht und lustig, ich flog fast. Sonderbar war, dass es mir dabei nicht gelang, mich ihnen zu nähern. Bei diesem Abstieg stieß ich auf eine sonderbare Anlage, die entfernt an ein Spiegelteleskop erinnerte, sie versperrte mir den Weg. Ich kletterte an den Trägern hoch, glitt an einer Leiter ab und stand vor einem Spiegel. Darin spiegelte sich jene Bucht, jenes Ufer, jenes Meer, aber die anderen gingen am Ufer schon weit in der Ferne. Ich begriff, dass ich mich tatsächlich sputen musste, wandte mich auf der Suche nach einem Durchgang vom Spiegel ab und stieß erneut auf einen Spiegel. Ich rannte auf der Suche nach einem Ausgang – überall waren Spiegel, überall stieß ich darauf, ich jagte umher, bis mir entsetzt bewusst wurde, dass ich mich im Kreis drehte, eingefasst von Spiegeln, eingemauert in ein Spiegelprisma … Mit der Angst, zurückzubleiben
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