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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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liebt und glaubt, wozu dann schreiben oder beten? Umarmst du eine lebendige Frau, ist das eine Figur, zieht es dich zu Gott, sind das Wörter, wirfst du dich auf die Erde, ist das die Heimat. Und die Erde stößt dich, den Großartigen, aus sich hinaus, als Denkmal, als Reliquie, damit du nicht in der Erde – in der Heimat hast du aufzuragen, wie nicht bestattet … Ich habe stets
nur von einem geträumt: dass ich aufhöre zu schreiben, dass ich anfange zu leben. Oh, ich hätte es schon gekonnt! und dann nie mehr eine Zeile geschrieben. Mit dem größten Vergnügen, zu meinem allergrößten Glück. Ich liebte schon fast! das Schicksal nahm es mir. Wir kamen schon von der Trauung, da trat sie auf diese unsichtbare graue … es regnete, und wir rannten, Hand in Hand und lachend, vom Rathaus zum Auto … sie blieb am Rocksaum ihres Brautkleids hängen, verlor den Schuh … und mit der nackten Ferse direkt auf die nackte Leitung … Doch, hatte ich! Die ganze Zeit hatte ich diesen Ausweg zu lieben. Ich hätte ihn besiegen können, den mit der Aktenmappe und der Photographie, wie im Märchen: allein durch Liebe. Hätte ich ihn nur gleich verjagt oder dieser Fälschung keine Bedeutung beigemessen, schließlich war das eine Fälschung! Und ich fälschte dementsprechend mein Leben! Tja, wäre es nur meines gewesen … Hätte ich sogar wie ein Lump Dika verlassen, aber dafür zumindest die Französin, zumindest die Holländerin geliebt … aber nein: keine! Dabei, die Friseuse, die wäre nun wirklich liebenswert gewesen … Aber ich liebte ja nur EINE , diese papierene Helena. Einen solchen Traum hatte ich auch.
    Nach Dikas Tod verbrannte ich den Roman und ging nicht mehr aus dem Haus. Essen brachte mir jemand. Vielleicht sogar die Friseuse. Aber ich erinnere mich an keine einzige Frau. Und ein Jahr später träumte mir, ich flöge über einem gezeichneten Land, so etwas wie Griechenland, so etwas wie eine Picasso-Grafik zu antiken Themen, bloß irgendwie noch unrealistischer und parodistischer. Dort unten, unter mir, herrschte eine Art bacchantischer Idylle, Schafe, Ziegen, Hirten, Hirtinnen … und alle machten nichts als Liebe. Sie waren auch aus Papier, wie Kinderpüppchen, die aus einem karierten Heft ausgeschnitten wurden. Ja, es war ein Traum auf kariertem Papier. Das Schauspiel ihrer papierenen Liebe erheiterte mich zunächst, dann amüsierte es mich, dann steckte es mich an, ich fühlte mich genauso papieren wie sie, doch genauso bereit und imstande wie sie – fliegend suchte ich nach einer Gefährtin, aber sie waren alle schon vergeben. Meine Bereitschaft
wuchs, eine Gefährtin war nicht in Sicht. Schließlich doch. Ich ging in Senkflug, glitt hinab; schon sah sie mich, öffnete die Arme, mir entgegen; ich stieß im Sturzflug auf sie nieder … da werde ich zu mir selbst, nicht mehr papieren, sondern lebendig, und – platze durch dieses Blatt aus einem Schulheft.
    An jenem Tag ging ich zum erstenmal hinaus in die Stadt. Ich streifte ziellos und lange umher und musterte erneut die Gesichter, nicht mehr auf der Suche nach einer mythischen Helena, sondern ohne Frauen von Männern zu unterscheiden, einfach die Gesichter von Menschen: Wie sind sie und wer sind sie, die Menschen? Ich ging in Parks, Cafés und Geschäfte und ging wieder hinaus, ohne mich zu setzen, ohne zu essen, ohne etwas zu kaufen. Ich wurde müde und beschloss, nach Hause zurückzukehren. Und da entdecke ich, dass ich nicht mehr gehe, sondern stehe, vor einem Schaufenster stehe und stumpfsinnig auf zwei Schaufensterpuppen schaue, eine männliche und eine weibliche, die einander die Hände entgegenstrecken und quasi aufeinander zugehen, um sich endlich zu umarmen, aber etwas hindert sie – mein Spiegelbild dazwischen? Und durch das Schaufenster, an den Schaufensterpuppen vorbei, im Innern des Geschäfts, da erblicke ich sie, die Helena von dem Photo. Denn diesmal stimmt alles haargenau: Wie hatte ich dieses Geschäft nur früher übersehen können? Ich war doch tausendfach hier vorbeigegangen in jenem Leben, als ich noch suchte! Es war ganz neu, das Geschäft, gerade erst fertiggebaut, im Lauf des Jahres, solange ich nicht außer Haus war. Ich rechnete nach – es waren genau sieben Jahre vergangen. Und während ich wie gelähmt dastand und im Gehirn langsam diese schlichten Gedanken wälzte, kam Helena zur Glastür heraus, gekleidet wie auf der Photographie, mit einer Tasche wie auf der Photographie … warf einen Blick auf mich wie

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