Der Symmetrielehrer
schließlich, dass es aus ist, Schluss ist, und unglücklich lässt sie ihn ziehen. Und als er dann nicht explodiert, als er seine durchgebrannten Glühbirnen in den schwarzen Abgrund des Ozeans geworfen hat, ist er tatsächlich ganz allein. Er kann nirgends hin, nicht einmal ein Heim hat er noch, er hat sein Haus verkauft, das Geld verteilt; nicht einmal Geld hat er noch, wozu hätte er
nach der Explosion welches gebraucht? Er kann zu niemandem, Verwandte hat er keine, kann nicht einmal zu der einzigen Frau, die ihn ertrug, von ihr hat er für immer Abschied genommen. Er hat endgültig keine Seele mehr, aber einen Körper hat er nach wie vor. Und als er dann die ganze Nacht herumgewandert ist, findet er sich, halb erfroren und ausgehungert, an der Türschwelle der verlassenen Frau wieder und kann sich nicht entschließen zu klingeln … da geht die Tür von selbst auf. Sie ist kein bisschen erstaunt, dass er zurückgekehrt ist. Sie hat ihn erwartet. Das Abendessen ist noch warm …
Mir kam es vor, als kehrte ich des Manuskripts wegen zurück. Wieviel Zeit war vergangen? Drei Tage? Drei Jahre? Als hätte mir Feuer ins Gesicht geloht, überzog ich mich mit Schweiß. Das war keine Scham, kein Schmerz, keine Angst, kein Gewissen, keine Reue … Das war … Ich habe keine Worte für das Gefühl von etwas Nichtwiedergutzumachendem … »Dika!« schrie ich und rannte los.
Das Schloss traf nicht den Schlüssel, die Tür öffnete sich verkehrt herum … Dika war nicht da. Alles war ordentlich und leer. Leerer, als wenn Dika bloß nicht zu Hause war. Auch der Papagei war nicht da. Der Käfig leer, das war es. Drei Tage? Drei Jahre? Ich ertastete auf dem Tisch einen Zettel; die Vorhänge waren zugezogen, so ließ er sich nicht lesen. Der Lichtschalter fand die Hand nicht … schließlich: Licht. Der Zettel schwankte in den Händen, die Zeilen glitten andauernd am Blick vorbei. Ich legte ihn auf den Tisch zurück, genau an die Stelle, wo er gelegen war, und die Hände auf die Tischkante gestützt, konnte ich endlich lesen: ›Jacquot ist fortgeflogen. Bin ihn suchen. Auf dem Herd steht Grütze. Kuss E.‹ Ich hätte erleichtert sein müssen, war es aber nicht. ›Drei Tage? Drei Jahre?‹ murmelte ich unablässig und zog Kreise durchs Zimmer. Ich stieß an einen Stapel, und die Bücher prasselten auf mich herab. Sie prasselten und prasselten wie Graupen. ›Die Grütze!‹ kam es mir plötzlich, und ich stürzte triumphierend zum Herd. Die Grütze war noch warm! Sie konnte weder drei Jahre noch drei Tage warm sein! Die Zeit zog sich hastig zusammen wie etwas Lebendiges, wie ein Herz. Eigentlich hätte ich davon
erleichtert sein müssen. War es aber wieder nicht. Die Zeit zog sich endgültig zusammen, bis heute, bis zu diesem Augenblick, bis zu einem Punkt, und blieb stehen wie ein Herz. Eine Nadel, noch feiner als ein Augenblick, so durchstach sie, als Zeit, das Herz. Ich schloss die Augen, und merkwürdigerweise sah ich das Bild des Stuhls vor mir, wie er dastand in unserer ersten Nacht, die Kleider darauf zusammengelegt wie die eines Verstorbenen. Erschrocken öffnete ich die Augen – der Stuhl war leer. Und das Herz schlug nach wie vor nicht.
So kam ich auch in den Zoo gerannt, mit stehengebliebenem Herzen. Weshalb in den Zoo? Das weiß ich nicht zu erklären. Ich war mir sicher, dass sie dort war, punktum. Erst danach phantasierte ich mir den Rest hinzu. Wie sie auf mich wartete und wartete … wie sie vergaß, den Käfig zuzumachen … wie sie kaum noch Luft bekam und das Fenster aufriss … wie sie urplötzlich und mit der Unabänderlichkeit einer Erleuchtung einsah, dass ich fortgegangen war und nicht zurückkehren würde, deshalb einsah, weil Jacquot fortgeflogen war … wie sie Jacquot nachjagte, als wäre ich es … wie sie durch die Straßen irrte und schrie: ›Jacquot! Jacquot! Haben Sie nicht Jacquot gesehen?‹ Was weiter? urplötzlich ein Auto? eine Straßenbahn?! ›Nein, nein!‹ schrie ich im Laufen. Mir war die Erkenntnis derart urplötzlich gekommen, dass mir keine Zweifel mehr blieben, genauso wie ihr, als sie, völlig verzweifelt, auf einmal erkannte: Natürlich, er war zu den SEINEN geflogen! Wohin sonst? Sie rannte freudig weiter, beflügelt, atemlos vor Glück, dass er dort wäre, im Zoo, wo denn sonst! Sie durchkämmte zum hundertsten Mal den Zoo, oh, diese Wüstenei, überbevölkert, wo Jacquot nicht war! ›Mein Lieber! mein Lieber, komm zurück!‹ rief sie. Aber er war mehr und
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