Der Symmetrielehrer
zog, als hätte
er Zahnweh. Jedenfalls, von diesem Moment an hatte Toni-Badiver-wahrscheinlich-konnte-nur-er-das-sein den Spitznamen Gummi weg, nach der Ähnlichkeit mit dem gerade damals in Mode gekommenen Spielzeug, was wiederum mit dem Rummel um den brasilianischen Kautschuk zusammenhing. (Das Spielzeug stellte einen alten, gutmütigen schottischen Trunkenbold dar, eine Pfeife zwischen den Zähnen, und wenn Sie in entsprechende Löchlein an seinem Nacken die Finger steckten und sie bewegten, dann zwinkerte und kicherte der alte Saufkopf.) Gummi, so war Toni-ohne-jeden-Zweifel-Badiver gleich benamst worden von unseren patenten Polizisten, die in ganz Taunus berühmt sind für die Flinkheit ihrer Zunge und ihre Langsamkeit beim Prügeln.
Vom Gelächter verwirrt, schlug Gummi-wer-hätte-das-auch-sonst-sein-können die Augen nieder und ließ die stumpfen halbrunden Stiefelspitzen kreisen (seine Füßchen reichten nicht bis zum Boden), und irgendwie passte das dermaßen zur vorhergegangenen Grimasse, dass auf die erneute Lachsalve sich sogar der alte Samuelsen aus der Nachbarzelle meldete, wütend gegen seine Tür trommelte und schrie:
»Ich möchte auch zuschauen!«
Der herzensgute Smiles ging auf Befehl von Goms seufzend daran, Samuelsen gründlich durchzubleuen. Und Gummi sagte:
»Ist er gestern auch runtergefallen?«
Da eben stellte sich heraus, von wo Gummi herabgefallen war … Man muss es ihr hoch anrechnen, unsere vife Taunusser Polizei hatte im Nu Licht in die Sache gebracht. Zweihundert Meilen im Umkreis war niemand aus einer Heilanstalt entlaufen; beim Kloster Daruma anzufragen, von wo Badiver, nach Gummis erstem Gestammel, hätte kommen können, hielt man für unzweckmäßig, zumal dieses Kloster sich, seinen Worten nach, womöglich gar in Tibet befand, womöglich gar in Kambodscha (zumal Gummi das von dem Kloster vollkommen vergessen hatte, sobald er endgültig zu sich gekommen war, und sich nur noch an seine letzte Landung erinnerte – offenbar hatte er durch den Aufprall das Gedächtnis verloren). Und so wur
de Gummi, auf persönliche Verantwortung, dem schüchternen Polizei-Feldscher übergeben. Samuelsen dagegen saß wegen Rabaukentums zwei Wochen.
Doktor Robert Davin, Esq., lernte Gummi auf dem Bahnhof kennen.
Der Doktor hatte soeben seine Verlobte zum Zug begleitet, sie fuhr nach Cincinnati zu ihren Eltern. Der Zug war abgefahren, und der Doktor gestand sich ein, dass er gehörig erschöpft war von dem einwöchigen ununterbrochenen Glück. Denn erst als klar war, dass er vom Zugfenster nicht einmal mehr mit dem Fernglas zu sehen wäre, entließ er endlich sein Lächeln, und da begriff er dank der glücklichen Empfindung der Gesichtsmuskeln, dass er die ganze Woche ununterbrochen gelächelt hatte, sogar im Schlaf. (Damit seine Verlobte, wäre sie mitten in der Nacht zufällig aufgewacht, ihn beglückt vorgefunden hätte …) Mit Joy hatte das nichts zu tun, sie war ein reizendes, gutmütiges Geschöpf, und er liebte sie sehr. Jetzt aber, als er ein letztes Mal das Tuch schwenkte, hätte ihm der Gedanke kommen können, dass seltsamerweise gerade seit der Verlobung die Unausweichlichkeit des bevorstehenden Glücks irgendwie zu Erschöpfung führte – aber gerade das dachte er nicht, vielleicht jener inneren Unaufrichtigkeit wegen, die die Leute Anständigkeit nennen.
Wie dicht sich eine Veränderung angeschlichen hatte, bemerkte er deshalb erst in dem Augenblick, als er das Lächeln endlich entließ und auf dem leeren Bahnsteig fast demonstrativ seufzte. Und sogleich schien sich sein Denken von der Leine loszureißen … ›Wie ich mich nach der Arbeit sehne!‹ – so der Seufzer, so die Entschlossenheit des ersten, übergroßen Schrittes auf dem Bahnsteig, und beides nannte er Freiheit. Über all das dachte er noch in derselben Sekunde nach: über den Verlust des Glücks, über den Erwerb der Freiheit, über die Geburt des Denkens unmittelbar danach … An diese Triade, kam es ihm vor, war ein Fädchen von etwas Größerem geknüpft; er fing sogleich Feuer, suchte die Kausalzusammenhänge dieser Parameter (Glück, Freiheit, Denken) herauszufiltern, und da
er in seinem Wortschatz viele der heute modischen und jedermann bekannten Wörter (zum Beispiel Sublimierung) nicht fand, probierte er durch: Austausch, Übergang von Energie, Freisetzung, nein, Übertragung, Überschiebung, das heißt, Verschiebung … Verdrängung? jedenfalls nicht diese dummen Reflexe. Und während Doktor
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