Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
Vom Netzwerk:
auf der Photographie, gefühllos, als wäre ich ein Gegenstand, und ging vorüber. Ich dagegen stand wie angewurzelt. Und da erblickte ich im Schaufenster mein damaliges Schreckensgesicht von der Photographie, und statt der Haare – Schlangen. Ich stieß einen Schrei aus und stürzte ihr nach, um sie umzubringen. Umbringen ist im übrigen nicht das rechte
Wort, ich war mir sicher, dass ich sie in Fetzen reißen würde wie ein Photo, dermaßen war ich überzeugt, dass sie aus Papier war. Ein Mord wäre das nicht gewesen, bloß Fetzen auf dem Asphalt. SIE  – war weg. Wie vom Erdboden verschluckt.
    Zerreißen, na ja. Auch das war noch nicht das Ende. Als sie verschwunden war und ich sie nicht geschnappt hatte, begriff ich, dass ich erneut der Anfechtung dessen mit der Aktenmappe erlegen war, dass ich in Wirklichkeit sie hätte packen und nicht mehr loslassen, mich hätte verurteilen müssen zu ihr und sie liebgewinnen, nun endlich und bis zum Ende, zum Tod. Dass es meine letzte Chance gewesen war, das Schicksal auferstehen zu lassen. Dass ich auch sie vertan hatte. Oh, wie war ich doch mein Leben lang blind: Wellen, Spiegel, Papier, Photographien …
    Daraufhin machte ich mich erneut auf die Suche nach ihr, obwohl ich schon genau wusste, dass es nutzlos wäre, ich schrieb einen neuen Roman, er hieß ›Der verbrannte Roman‹. Ein Roman, in dem die Menschen kein Wort sagen. Nein, den können Sie ebenfalls nicht gelesen haben, aus dem gleichen Grund … Ich weiß nicht, was Sie da von mir gelesen haben, mein Leben lang habe ich nur diese beiden Romane geschrieben und sie beide nicht fertiggeschrieben, ja, und im Grunde war das in Wirklichkeit vielleicht nur ein Roman, keine zwei. Dort kehrt der Held zu seiner ersten Liebe zurück und zum ersten, verworfenen Roman. Dort hat er, zeigt sich nun, einen Sohn, einen schon erwachsenen Jungen, doch der ist taubstumm. Und die Mutter schweigt zusammen mit ihm, aus Solidarität, schon vierzehn Jahre. Der Held quartiert sich erneut bei ihnen ein und schreibt jenen allerersten Roman in dieser fleischgewordenen Stummheit zu Ende. In diesem Roman ist er …«
    Vanoski hat seinen Roman, denke ich, bis zu Ende erzählt – er sah mich nicht mehr. Leise glitt ich aus seiner Hundehütte. Mein Gott! wie schön das Leben doch ist! Wie süß der staubige städtische Flieder nach Benzin duftet! Wozu hat er Erfolg, Geld, Ruhm? Wozu haben das alle diejenigen, die das nicht NICHT MEHR brauchen, nein, die das überhaupt NICHT brau
chen? Wozu habe ich meine Jugend, doch das alles habe ich nicht?
    Da ging mir auf, was Vanoski gesagt hatte, als ich ihn dermaßen nicht mochte, dass ich nicht einmal mehr zuhörte:
    »Trotzdem, er hat mich nicht besiegt. Jetzt ist das klar. Er hat mich nur in diesem Leben besiegt, in JENEM kann er mich nicht besiegen. DORT bin ich stärker, dort ist bei mir meine Dika …«
    Und ich begriff, weshalb meine Liebe zu ihm so umgeschlagen war: dieser seiner Dika wegen. Deshalb, weil sie die Seine war, nicht die Meine. Wozu hatte ich, ohne sie, meine Jugend?
    ----
    [ 3 ] Eine Übersetzung ist nicht erforderlich, das heißt auch bei uns im Russischen so. (Anm. d. Ü.)

O – Zahl oder Buchstabe?
    (Freud's Family Doctor)
    Aus dem Buch »Die Fliege auf dem Schiff«
von Urbino Vanoski
     
    » S ag mal, bist du vom Mond gefallen?«
Und er antwortete:
    »Ja.«
    Sein »Ja« klang gelassen, nicht aufsässig. Das Gelächter, das auf die Antwort folgte, kränkte ihn nicht mehr; er wäre darüber froh gewesen, hätte er es bemerkt. Aber er bemerkte es nicht, genierte sich sogar ein wenig, dass er ihren Erwartungen nicht ganz gerecht wurde. Worauf sie seltsamerweise nicht weniger, sondern noch mehr lachten als sonst. Das machte ihn stutzig, er schaute ein wenig länger voll runder Verwunderung auf die näher kommenden, schwankenden Oberflächen der fremden Gesichter, auf die Buckel der Wangen und Stirnen, die Einbuchtungen der Augen, die Spalten zwischen den Zähnen – und die gewisse Zerrspiegelhaftigkeit der Gesichter erinnerte ihn an eine andere Oberfläche, eine andere Landschaft, er rief sich ins Gedächtnis, wohin er gerade unterwegs war, entschuldigte sich und ging weiter die Sunday Street hinab, dorthin, wo sie unmerklich auslief, in eine verblichene Wiese überging, wo das Gelächter, zurückgeblieben, allmählich erstarb, wo unsichtbare Insekten mit ihrem Gezirpe anhoben und ruckhaft die immer gleichen Schmetterlinge flatterten. Am Himmel schwebte ein Luftschiff,

Weitere Kostenlose Bücher