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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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dafür vorgesehenen Zeit vollkommen aus, das heißt, die Zeit schaffte es immer noch, mit dem Leben gleichzuziehen.
    Wie wir schon sagten, war in diesem Zeitreservat die zarte Röte noch nicht von den Wangen des Jahrhunderts entschwunden. Dem Leben waren Kinder, Hochzeiten, Tode und Gäste eingepasst, ein winziges Gefängnis mit verständlichen Verbrechen, eine Kirche und ein städtischer Friedhof. Auf die Hauptstraße konnte sich durchaus mal eine Kuh oder ein Schaf verlaufen, und die Menschen wussten, wessen Schaf oder Kuh das war. In diesem Leben war auch für einen städtischen Deppen Platz, und diese Stelle war in dem Moment, als Gummi in die Stadt »fiel«, gerade vakant.
    In Erstaunen versetzen konnte er die Stadt nur einmal, nämlich als er auf die Frage, wie es ihn hierherverschlagen habe, schließlich eingestand, er sei vom Mond gefallen. Das brachte zum Lachen, damit machte man seinen Frieden. Endlich überzeugt, dass Gummi (mutmaßlich Toni Badiver) von niemandem gesucht wurde, zog die Polizei den Schluss, dass er folglich auch nirgends entlaufen war; eines anderen Geheimnisses konnte sie ihn nicht verdächtigen, und so hörte sie auf, ihn auszuquetschen. Die Leute fragten, bekamen eine Antwort, und die stellte sie ebenfalls völlig zufrieden. So wurde Gummi vom Mond zu Gummi aus Taunus und nahm im Städtchen seinen Platz ein, der ohne ihn bereits leer erschienen wäre.
    Obdach fand er bei der alten Carmen, einer dicken, schnurrbärtigen Spanierin, was ebenfalls als etwas sehr Natürliches
hingenommen wurde. Carmen wohnte ein wenig abseits und sammelte Kräuter, sie wirkte furchteinflößend und wenig gesprächig, und wäre es auch schwierig gewesen, in einem so kleinen Städtchen wie Taunus für jeden ein verwandtes Schicksal aufzutreiben, doch fand man damals noch sein Auskommen. Und mochte Carmen Gummi auch nicht wie einen Menschen behandeln, so doch durchaus menschlich. Er war sauber gekleidet und satt. Man könnte sogar sagen, insofern die alte Carmen niemanden wie einen Menschen behandelte, dass sie ihn jedenfalls menschlicher behandelte als alle anderen.
    Toni erwarb sich bald den Ruhm eines hervorragenden Holzhackers, und als solcher sicherte er sich den Lebensunterhalt sogar mehr als genug. Er redete mit den Holzscheiten, und dank seiner Überredungskunst schienen sie sich von der leisesten Berührung zu spalten. Dann schichtete er sie zu wunderbar eleganten und kompakten Holzbeugen auf. Mit den Holzscheiten war er ungewöhnlich umsichtig, irgendwelche anderen Tätigkeiten jedoch, die auch nicht komplizierter waren, meisterte er einfach nicht.
    Gummis Leben war somit geordnet und wolkenlos. Verspottet wurde er in Maßen. Die Grausamkeit der Taunusser war im großen und ganzen ebenso bieder wie ihre Menschlichkeit. Mehr als nur einen Scherz konnten sie sich nicht ausdenken und lachten stets über diesen einen, das allerdings mit nicht nachlassender Begeisterung: »Sag mal, bist du vom Mond gefallen?«, und er antwortete: »Ja«, was den Taunussern echtes Vergnügen bereitete. Ihn selbst bekümmerte dabei sehr, dass sie ihm nicht glaubten, jedesmal genauso stark und aufrichtig wie beim ersten Mal, was wohl auch die Weiterentwicklung des Scherzes behinderte. Gummi versuchte, sich auf Erklärungen einzulassen und zu beweisen, er könne wirklich fliegen, er sei sogar in Tibet gewesen, wo er ein halbes Jahr für das Kloster Daruma Wasser geschleppt habe. Aber diesen Erklärungen lauschte niemand mehr, sie wurden nur als eine ungeschickte Fortsetzung des Scherzes angesehen und gingen im Lachen unter; so hatten die Taunusser verhältnismäßig rasch Gummis Erzählungen auf die lakonische und präzise Formel
verkürzt: »Sag mal, bist du vom Mond gefallen?«, und er antwortete: »Ja«.
    Gummi war ein friedfertiger Mensch, und obwohl es ihn sehr bekümmerte, dass sie ihm nicht glauben wollten, sah er ein, dass zu murren und diesen Menschen etwas beweisen zu wollen zwecklos war. Ein Beispiel dafür, wie das Wissen um die eigene Minderwertigkeit in mancher Hinsicht auch einen Idioten weiser machen kann als die normalen Menschen.
    In der arbeitsfreien Zeit (in jenen Zeiten gab es zwar nicht so viel freie Zeit, dafür war sie regelrecht frei wie die Leere) ging Gummi bald gerne zum Taunusser Bahnhof, wo ihm manchmal ein winziges Häuflein neuer Leute entgegenkam, die noch nicht gelernt hatten, ihre Scherze wieder und wieder vorzubringen. Er schaute gerne der Lokomotive zu, die ihn sehr belustigte. Er schaute

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