Der Symmetrielehrer
zu, wie sie mühsam sich ausschnaubte und mit ihrem Knie hämmerte, wie unterm Rad Funken vorstoben und es nirgends hinfahren mochte. Die Mühsal und Schwere ließen ihn spöttisch lächeln, er schien der Lokomotive etwas zeigen zu wollen, besann sich dann jedoch eines anderen und wandte sich seufzend ab. Außer diesen beiden, uns nicht recht zugänglichen Vergnügungen nährte er noch eine leidenschaftliche Zuneigung für den Laden des Groben Joe, der diesen Spitznamen kurioserweise eben seiner Grobheit wegen erhalten hatte. Die Sache war die, dass für Gummis Arbeit alle mit Carmen abrechneten und nur der Grobe Joe Gummi »bar auf die Hand« bezahlte. Dafür spaltete Gummi ihm so viel Holz, dass es ihm bis zum zwanzigsten Jahrhundert reichen würde. Der Grobe Joe verkaufte Zeitungen und Zeitschriften, er unterhielt am Bahnhof einen Kiosk. Und seine Abrechnung mit Gummi bestand in Bildchen und Ansichtskarten, was gerade vorhanden war. Gummi, der an diesem Tag keine Arbeit hatte, lungerte seit morgens am Bahnhof herum. Der Grobe Joe, dessen sämtliches Holz längst gespalten war, der aber trotz seiner Grobheit Gummi auf seine Weise gern hatte, konnte ihm eine Photoserie von Broadway-Theaterstars nicht vorenthalten, aber sie umsonst herzugeben hielt er auch für unmoralisch. Darum war er genötigt, dreimal den Scherz über den
Mond zu wiederholen, sich an Gummis Kummer zu weiden und ihn einmal noch mit einer ungefährlichen Ohrfeige zu bedenken (was Gummi überhaupt nicht krummnahm), wonach er seiner unverbrauchten Gutmütigkeit bereits Genüge tun und Gummi einen Stapel Photokarten aushändigen konnte, als wären sie erarbeitet.
Gummi schaute sie sich nicht gleich an, sondern steckte sie in die Tasche, hob das Hauptvergnügen auf »für später« und gab erst dem Zug nach Cincinnati das Geleit. Er lachte ein wenig über die Lokomotive. Alle neuen Leute waren abgereist, die auf dem Bahnsteig Zurückgebliebenen interessierten ihn nicht. Er ging zur Seite und holte vorsichtig die Photokarten hervor.
Als er die ersten beiden angeschaut hatte, sah er jedoch ein, dass dieser Ort nicht still genug war, nicht dermaßen abgeschieden, um so, im Stehen, etwas so Schönes zu betrachten, worauf er eine bewundernswerte Selbstbeherrschung an den Tag legte und das ganze Päckchen zurück in die Tasche versenkte, ohne es hastig durchzublättern oder weiter hinten reinzugucken. Noch einmal vergewisserte er sich, ob die Karten nicht neben der Tasche gelandet waren, dann hob er die Augen und traf auf den unverwandten Blick Doktor Davins. Er wusste nicht, dass es Doktor Davin war; der Doktor fand selten aus seinem Irrenschloss den Weg nach Taunus, er führte ein geheimnisvolles Einsiedlerleben. Diesen Menschen sah Gummi eindeutig zum ersten Mal, doch seltsamerweise kam er ihm bekannt vor. Gummi wunderte sich, dass anscheinend nicht alle neuen Leute mit dem Zug abgereist waren, dass einer dageblieben war. Dieser Mensch schaute ihn aufmerksam, klug und gütig an; Gummi unterschied diesen Blick leicht von allen anderen, denn alle, außer vielleicht Carmen, schauten ihn stets mit ein und demselben Blick an. Der Blick dieses Menschen verblüffte Gummi, er kehrte in seiner Seele das Unterste zuoberst. Mit einemmal hätte sich Gummi am liebsten ihm an die Brust geschmiegt und tief geschnauft. Dieser Mensch lachte nicht und hatte auch nicht vor zu lachen, das spürte Gummi gleich. Dieser Mensch schaute ihn mit einer Aufmerksamkeit
an, die für Gummi sogar wertvoller war als eine Liebkosung. Noch nie hatte Gummi in Taunus einen so schönen und vornehmen Herrn gesehen. Wie das bei Idioten vorkommt, war Gummis ästhetisches Empfinden hoch entwickelt, und das Aussehen dieses neuen Menschen, besonders die Ecke des Tüchleins in der Brusttasche, imponierte ihm sehr. Und Gummi fasste volles Vertrauen.
»Guten Tag«, sagte Gummi höflich. Sein Gesicht verzog sich dabei nicht zur üblichen Harmonika, auch zwinkerte und schmatzte er nicht.
Davin blickte in dieses ungetrübte Gesicht, in dem nur die unerhörte Vertrauensseligkeit von Geistesschwäche zeugte; der Doktor hielt sich keineswegs für einen sentimentalen Menschen (und deshalb war er wohl einer), ertappte sich jedoch dabei, dass er mit Vergnügen in dieses Gesicht schaute. Auch sein Gesicht wurde gleichsam weicher bei Gummis Anblick, es schüttelte die starre, harte Schönheit ab wie eine Maske und blieb es selbst, wie es lange nicht mehr gewesen war. Gummi kam ihm wie ein alter Knabe
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