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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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einen Platz freizuräumen, wobei sie hofften (womöglich sollte Davin als erster den Begriff »Unterbewusstsein« verwenden, ihn aber später nicht demjenigen streitig machen, dem dieser Begriff zugeschrieben wird …) – wobei sie hofften, ohne es sich einzugestehen, dass sie das erste und einzige Mal zusammenrücken mussten.
    Also, Doktor Davin ist achtundzwanzig, ist von hohem Wuchs, hager und stattlich. Er hat ein sehr großes und bleiches Gesicht, eingefasst von einem überaus schwarzen Bart, das wirkt sehr schroff, die Bleiche und Schwärze, und auf eigene Weise sogar schön. Die Herzen der ortsansässigen jungen Damen stocken vor seinem bedrohlichen Aussehen. Der Blick seiner riesigen und ebenfalls sehr schwarzen Augen, scharf wie Anthrazit, bringt ihre Herzchen zum Hüpfen, und – oh, hätten unsere jungen Damen erbleichen können! Aber vieles kannte unser Städtchen noch nicht, auch vom Bleichsein hatte es keine Ahnung. In diesem Sinne war Robert Davin in unserer Gegend der erste Aristokrat. Haben die jungen Damen ausgezittert, gestehen sie sich flüsternd, er sei furchtbar, und eine, die immerhin etwas bleicher ist, korrigiert seufzend, er sei »furchterregend schön« – sie ist die erste Intellektuelle in unserer Stadt.
    Sein Blick jedoch, wenn auch durchdringend, war keineswegs böse. Dieser Blick erschien überaus aufmerksam, als sähe er durch und durch, was Entgegenkommende bewog, den Kopf einzuziehen und gleichsam auf der Hut zu sein. Doch war das nur eine Art Aufmerksamkeit. Im Grunde sah der Doktor nichts, als was er in ausnahmslos allem, das ihm unter die Augen kam, zu sehen beabsichtigte (ebenfalls, sagen wir mal, ohne es sich einzugestehen), und ebendas verhieß ihm eine grandiose Zukunft. Vielleicht gar nicht, dass er »durch und
durch«, sondern dass er jedermann unbedingt seiner Sichtweise einverleibte, bewog die Menschen um ihn, auf der Hut zu sein, auch wenn es Neugier weckte. Sie hatten recht: er arbeitete an einem Urteil. Noch für gewiss hundert Jahre sollte er ihnen aufdrängen, wie sie gleichsam in Wirklichkeit wären. Wiederum – pssst! – wusste davon bislang niemand, nicht einmal er selbst. Er schaute unverwandt auf Gummi. Vielleicht war er der erste Mensch in Taunus, der, den Blick auf Gummi geheftet, nicht zu kichern anfing. Er fand an seinem Aussehen nichts komisch, sondern stand da, während ein Gedanke dem nächsten nachjagte und den vorigen verdrängte. Etwas an Gummis Aussehen fesselte des Doktors Aufmerksamkeit: Es wollte dem Doktor nicht gelingen, Gummis Erscheinungsbild mit seinem Scharfblick festzunageln, und geradezu lachhaft ist, dass sich der hundsgewöhnliche Anblick dieses Idioten dem vorgefertigten Blickrahmen unseres Genies nicht einpassen ließ. Noch vor dem Bewusstsein schaltete sich im Doktor das Fachwissen ein, doch obwohl er seine umfangreiche Kartothek im Kopf automatisch durchblätterte, konnte er kein entsprechendes Karteikärtchen herausfischen. Bestimmte konstitutionelle Veränderungen Gummis (im übrigen wusste der Doktor noch nicht, dass das Gummi war) entsprachen nicht ganz der klassischen Interpretation genau dieser Form der Unterentwicklung. Der Eindruck war, dass er, falls schwachsinnig, es quasi nicht von Geburt war, sondern durch Degeneration, als hätte er sich die Konstitution eines Schwachsinnigen zugelegt. Aber in diesem Fall war die Degeneration zu stark, unmöglich, so etwas kam in der Praxis nicht vor …
    Gummi, der auf etwas Eindeutiges in seinem Innern gelauscht und sich gewundert hatte, hob zu Doktor Davin (obwohl er noch nicht wusste, dass das der Doktor war) seinen vor Treuherzigkeit blauen Blick.
     
    Jetzt kurz ein paar Worte über Gummi, den wir auf dem Revier vergessen haben.
    Die Zeit, von der wir erzählen, war noch eine schlichte Zeit. Auch wenn natürlich diejenigen, die darin vor sich hin lebten,
sie schon als neu ansahen, als völlig unvergleichlich, schon das Wort »Fortschritt« verwendeten und verblüfft waren über die Tempi ihres Jahrhunderts, welches sich vor aller Augen aus dem Dampfjahrhundert ins Elektrizitätsjahrhundert verwandelte. Doch auch wenn sie das für sich so sahen, wissen wir ja, dass sie noch in der guten alten Zeit lebten, zu der es kein Zurück gibt. Wir finden, dass ihnen gestattet war, ihr Leben ohne Komplikationen zu durchleben, in der einen und allgemeinen Bedeutung, die sich von den Absichten der Natur bezüglich des Menschen bislang noch nicht unterschied. Das Leben kam mit der

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