Der Symmetrielehrer
beschwichtigt vom Grün der schon leicht abblassenden Baumkronen, Staub am Ende des Wegs, das bescheiden fromme Geläute eines Kuhglöckchens … Wie lag doch alles gleichberechtigt und gleichzeitig da, ohne zu überdecken, ohne zu übertönen … Davin meinte auf einmal, schnell noch lieben zu müssen, denn so etwas … würde es schon bald … nie wieder … geben.
Er holte sein Zigarrenetui hervor, seine Finger zitterten. Gummi spiegelte sich, ein blendender Lichtreflex, im polierten Deckel, und Davin besann sich und bot ihm an.
Und während Gummi, gerührt und geschmeichelt, ungeschickt das Zigärrchen befingerte und Tabak verstreute, kam Davin schlagartig zu sich, das Städtchen verlor den Glanz, überzog sich mit einem grauen Beschlag, der Zug war nicht
derselbe, denn er kam anderswoher und fuhr anderswohin, ein Abfalleimer, umgekippt, spuckte seine ganze Pracht aus … verdammt! hab ich vergessen! Davin suchte sich jenes kardinalen Gedankens zu entsinnen, der ihm bei der Abreise seiner Braut aufgegangen war, doch der Gedanke schien, Joy folgend, in die Ferne gebraust zu sein, ohne eine Spur zu hinterlassen. Was hatte ich mir bloß überlegt? … Gefühl, Gedanke … nein, kein Zusammenhang … verdammt! gerade diese Überlegung wäre unbedingt im Gedächtnis zu behalten gewesen, ohne sie konnte er die Arbeit nicht fortsetzen.
»Psychische Tätigkeit ist nichts anderes – und kann auch gar nichts anderes sein – als die Ausbreitung einer von äußeren Eindrücken herrührenden Bewegung unter den Zellen der Hirnrinde. Die Wörter ›Geist‹, ›Seele‹, ›Empfindung‹, ›Wille‹ oder ›Leben‹ bezeichnen keine Wesenheiten, keine tatsächlichen Dinge, sondern lediglich eine Eigenschaft, eine Fähigkeit, die Tätigkeit einer lebendigen Substanz oder die Ergebnisse der Tätigkeit von Substanzen, die auf den materiellen Formen des Daseins gründen.«
Doktor Davin las das Geschriebene und strich es durch, dass die Feder sich ins Papier bohrte. Doch zerriss er es nicht und warf es nicht in den Papierkorb. Zurückgelehnt, wischte er sich müde übers Gesicht, und da er auf diese Weise etwas vom Gesicht abgewischt hatte, etwas Schwaches und Übles, richtete er den Blick zum Fenster hinaus. Rings um Gummi waren Berge von Holzscheiten gewachsen, und fröhlich wie Vögelchen flogen nach allen Seiten die neuen Scheite. Die Sonne ließ zu dieser Stunde die strohgelbe Fröhlichkeit der frischen Schnittflächen besonders strahlen, als leuchteten sie von innen, als spendeten sie schon Wärme, bereit, zu verbrennen. ›Wie akkurat ihr Tod ist!‹ überlegte Davin. ›Dabei sind sie schon tot … Ja, die Evolution nimmt sich etwas heraus, stört das ästhetische Prinzip … Wie dumm ist es zu sagen: Da wächst ein hässlicher Baum! Die Vornehmheit der Bäume ist unübersehbar: Treue zum Geburtsort, keinerlei Exkremente … Nein! Nein! in die Hauptstadt, nach Europa!‹ schrie Da
vin innerlich. ›Hier verliere ich den Verstand! Die Provinz … Wer hätte gedacht, dass es nicht die fehlenden Theaterpremieren sind und nicht die Geistesträgheit, sondern das … Eine Art Hypnose! Glück, was für ein Quatsch! Das ist vielleicht eine sinnlose Kategorie! Ich, ein Wissenschaftler, dessen Verstand … wie kann ich es wagen, ein solches Wort innerlich auszusprechen – Glück! Die Provinz, das ist … Glück, das ist Provinz. Die Provinz, das ist – Antiwissenschaft. Das sind konturlose Gesichtszüge, das ist das sinnlose Lächeln, das jetzt auf Gummis Gesicht spielt … Gummi, er ist das Bild der Provinz.
Was bin ich nur plötzlich so müde? Heute, gerade heute, sollte meine Seele sich besonders erholt haben. Ich habe ihr vielleicht zum erstenmal erlaubt, sich zu erholen, doch sie ist so müde. Wovon? Vielleicht habe ich ihr zum erstenmal erlaubt, zu sein? Und sie ist müde geworden, wie Säuglinge von der frischen Luft müde werden und bettlägrige Kranke von der Sonne vor dem Fenster? Meine untrainierte, ungefestigte, infantile Seele? … Habe ich soeben das Wort Seele ausgesprochen?‹ Davin musste lachen. ›Ich leide an Gehirnerweichung. Sentimentalität verdrängt den Verstand. Könnte es sein, dass Sentimentalität gerade Nichtaufgeklärtheit, Nichtgebrauch der Seele ist? Verdammt, verdammt!‹
Er trat ans Fenster und riss es mit einer überzogenen Bewegung auf. Ihn umfing der leicht alkoholische Geruch der frischen Holzscheite und der Abendkühle – wieder war es Herbst. Hinter den
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