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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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vor.
    Gummi hatte gegrüßt und schaute ihm gleichmäßig in die Augen.
    »Guten Tag«, sagte der Doktor. »Darf ich mich vorstellen: Doktor Robert Davin.« Und er streckte die Hand aus.
    »Gummi«, sagte Gummi, und verlegen berührte er die Hand des Doktors, außerstande, den Blick von der vorgerutschten schneeweißen Manschette und dem Manschettenknopf in Form eines goldenen Vögelchens loszureißen.
    »Entschuldigen Sie, dass ich Sie so ungeniert anspreche«, sagte der Doktor. »Aber Sie haben gerade etwas außerordentlich Interessantes betrachtet …«
    »Ihnen gefällt das auch?« Gummi freute sich. »Möchten Sie es sehen? Ich habe es selbst noch nicht recht angeschaut …«, stammelte er und wühlte hastig in der Tasche. Ausgerechnet jetzt verhakten sich die Kärtchen, ließen sich nicht herausziehen, aber es machte ihm nichts mehr aus, sie zu knicken, denn der Doktor sagte:
    »Das möchte ich sehr.« Und er kam näher, blickte gleichsam
schräg, von der Höhe seines Wuchses. Gummi hatte das Päckchen endlich herausgezogen.
    Etwas derart offen Vulgäres war dem Doktor, einem Mann seiner Kreise, wohl noch nie unter die Augen gekommen. Die plumpen Öldrucke hielten grobschlächtige und verderbte, müde Gesichter fest, Pferdegesichter. Hochgereckte Beine in schwarzen Strümpfen, Soubrettengetändel, Volants, dazu Lächeln, so verlockend wie abgestandener Schweiß … Der Doktor warf einen höflichen Blick auf Gummi – dessen Gesicht war von solch heißer und heiliger Begeisterung erhellt, dass dem Doktor sogar ein wenig übel wurde, etwas wie ein kurzer Schwindelanfall … Er richtete erneut den Blick auf die Photokarten – und erblickte ganz andere Bilder! Von jedem der Gesichter las er nun einen nicht verwirklichten Traum ab, ursprüngliche Reinheit, es haftete kein Fleckchen Schmutz daran, nur Müdigkeit, erschöpfte Hoffnung. Der Doktor sah sie mit Gummis Augen, und die für sein hochbeschäftigtes und tadelloses Gehirn absurde Überlegung, dass er es doch ist, der das Vulgäre sieht, dass er es zu sehen imstande ist, verblüffte ihn. Er blickte auf Gummi mit der Begeisterung des Naturforschers; solche Liebesfähigkeit hatte er noch bei niemandem erlebt.
    ›Mein Gott!‹ rief der Doktor innerlich aus. ›Welche Sünde kann dieser Mensch auf dem Gewissen haben? Welche Sünde außer …‹ Doch selbst diese so unschuldige Sünde, begriff er plötzlich, war undenkbar.
    So stand er, entzückt von Gummis Reinheit und Schönheit. Immer jünger wurde der alte Knabe, angestrahlt vom Licht der Schönheit, die er hingerissen betrachtete. Bei einem Porträt hielt Gummi inne und schaute es lange an. Von allen Bildern, die er durchgesehen hatte, war es zweifellos das am wenigsten anzügliche: ein schlichtes Gesicht, dümmlich und rein, das wer weiß wie auf die Bühne geraten war, talent- und glücklos im Theatersumpf. Gummi seufzte vor Begeisterung. »Gefällt es Ihnen?« fragte er besorgt. »Sehr«, sagte der Doktor zutiefst aufrichtig. Sein Herz jubilierte. Von neuem liebte er Joy. Ihn erfasste eine ungewöhnliche Erregung. Er sah, dass die
Luft ringsum durchsichtiger geworden war und überall die reine Form und die exakte Farbe zutage förderte. Ist ja wieder Herbst, fuhr es Davin durch den Sinn. Die Welt sauste vorüber, klar und rasch wie ein Phantasiebild, und schon war sie erneut am vorigen Ort. Wieder und wieder kehrte die Welt zurück, endlos, nur für den Bruchteil eines Augenblicks durch das Bewusstsein dem Blick entzogen, um sie selbst zu sein, frei von Erkenntnis und von glanzlosen, selbstverliebten Spiegelungen. Davin trank sie wie ein unglaubliches Wasser, mehr Wasser als das Wasser selbst.
    Wahrscheinlich gibt es im Paradies nur in diesem Sinne keine besonderen Wonnen außer Bächen, Laubhütten und Himmelsgewölben, dachte er. Dafür sind sie von solcher Art! Mein Gott! und diese Stadt, dieses Städtchen! Zum erstenmal entdeckte er, dass es eine Lage hatte, und gar keine üble Lage.
    Sie traten unter der Überdachung hervor, und an der Spitze des Bahnsteigs erblickten sie gemeinsam, wie das Städtchen, noch kühl und nicht ganz aufgewacht, sich drängte, zusammengeknäult in einer Flusswindung des Cool Palm River. Im Fluss schwammen Wolken, als ob ein Waschweib sie beim Spülen hätte ziehen lassen. Dort vorn, bei dem Brückchen, da spült ja tatsächlich eines … Mein Gott, wie gut alles zu sehn ist! Sogar dort, derselbe Zug noch in der Ferne … Und näher, das rote Dachziegelgedränge,

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