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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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Arbeit Interesse hat, sind meine Anstrengungen sinnlos und tatsächlich müßig. Zurück! Und wäre es zu Monsieur Charcot, unter seine alberne Dusche …‹
     
    Endlich hatte Gummis glücklicher Charakter ihm selbst einmal Glück gebracht! Kann ja nicht immer nur Holzscheite liebkosen … Jetzt hatte er ein Warum, ein Wem und Für-Wen, dazu ein Wohin und Zu-Wem. Wie man so sagt: sein Leben hatte einen Sinn bekommen. Er hatte seine Einsamkeit halbiert. Und war glücklich.
    Er hatte es selbst nicht gemerkt, wie er gleich beim ersten Mal, während er Doktor Davin vom Bahnhof zu seiner Irrenvilla begleitete, ihm alles erzählte, sein ganzes Leben, alles, was er wusste, und sogar alles, worüber er nachdachte. Das verwunderte ihn, mehr noch, wie rasch er alles erzählt hatte, wie kurz, so zeigte sich, sein Leben war – wie das eines Neugeborenen. Er erstarrte sogar offenen Mundes, als er in seiner Erzählung schon auf halbem Weg den gegenwärtigen Augenblick eingeholt hatte und beides sich deckte: jetzt geht er mit dem Doktor diesen Weg entlang … Damit fand sein ganzes Leben ein Ende. Ein krönendes Ende; er wiegte den Kopf, lachte spöttisch über sich selbst und schloss den Mund.
    Der Doktor war außerordentlich interessiert an allem, was Gummi erzählte. Er hatte ihm sofort geglaubt. Warum sonst hätte er so viele Fragen gestellt?
    In der Tat, der Fall erschien Davin interessant. Er erklärte sich die Leichtigkeit des Gesprächs, eine gewisse Neuheit und Unvermitteltheit der eigenen Überlegungen in Gummis Anwesenheit mit einem rein professionellen Schub. Anders konnte er sich das auch nicht erklären, und dass er sich einfach wohlfühlte in seiner Gesellschaft, dieses Unerklärliche, es häufte sich immer mehr an und verdross ihn plötzlich durch seine unklare Häufung; nun war er sogar über sich selbst verwundert: was hat er nur? wofür verschwendet er seine geniale Zeit? … aber da schlug sein Denken mit einemmal einen Purzelbaum, denn es traf auf die Herzenseinfalt seines Gesprächspartners und lebte auf, bevor er das noch begriffen hatte – ein erregendes und freudiges Gefühl. Und die Unterhaltung floss dahin.
    Über Gummis Vergangenheit etwas zu erfahren wollte ihm nicht gelingen. Gummi war selbst aufrichtig verdutzt. Er wuss
te nicht einmal, wie alt er genau war. Er war nicht älter, doch wohl auch nicht jünger als Davin. Und aus diesen schon beträchtlichen Jahren hatte er quasi nur das Städtchen Taunus im Gedächtnis, die übrige Zeit jedoch … Gummis Augen wurden kreisrund vor lauter Anspannung, wie wenn er etwas Bestimmtes, aber dermaßen Unbenanntes vor sich sähe, dass sich keine Wörter dafür finden ließen. Seine Wörter, zeitweise durchaus flüssig, bisweilen sogar bildlich, backten nun zusammen, knubbelten und zersetzten sich, verschmolzen zum typischen Grützbrei des Idioten. Aus all seinem angestrengten Geblöke über die Vergangenheit konnte Davin nur verstehen, Gummi sei sein Leben lang, zusammengerollt wie ein Embryo, in einer großen, durchsichtigen Pleura gelegen, der Himmel habe hindurchgeschimmert und sei auch nie verdeckt worden. Manchmal sagte Gummi, er sei in Windeln gewickelt gewesen, manchmal, er sei auf einer Art Bett gelegen, auf einem Sofa, mit offenen Augen, unter einer Glasglocke ohne Dach.
    »Vielleicht stand das Bett auf freiem Feld?« fragte Davin.
    Gummi schaute ihn erschrocken an, aber da er keine Ironie entdeckte, freute er sich:
    »Vielleicht auf freiem Feld … Ich erinnere mich an so einen Geruch.«
    Vom Kloster Daruma hatte er auch nichts weiter im Gedächtnis behalten. Alles vergessen. Vor dem Kloster hatte er wohl, mit offenen Augen, alles verschlafen, aber auch im Kloster war er mal ein Jahr gewesen, mal zwei, mal eine Woche, nicht mehr.
    »Haben Sie dort Holz gehackt?« fragte der grandiose Diagnostiker der Zukunft mit erstaunlichem Scharfsinn.
    Die Frage war sehr präzise, mit ihrer Hilfe gelang es Gummi, sich etwas ins Gedächtnis zu rufen.
    »Nein, dort gibt es gar kein Holz. Dort gibt es Berge. Ich habe Wasser getragen.«
    Aber mehr war da nicht. Eine zweite, ebenso treffsichere Frage wollte Davin nicht einfallen, so setzte er hinter Gummis Vergangenheit einen Punkt. Und fragte nach dem Mond.
    Gummi warf einen misstrauischen Blick auf den Doktor,
und wieder nahm er keine Spur von etwas anderem wahr, nur Anteilnahme und Interesse.
    »Ja, ich war auf dem Mond«, bestätigte Gummi.
    »Aber wie ist Ihnen das gelungen?« Davin überspannte den Bogen.

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