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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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Sogar der in Ironie nicht bewanderte Gummi merkte es; er merkte es und ließ den Kopf hängen.
    »Sie glauben mir nicht …«
    »Ach woher!« Davin widersprach hastig, in aufrichtigstem Tonfall. »Ich vertraue Ihnen absolut. Meiner Ansicht nach sind Sie ein Mensch, der unfähig ist zu lügen. Aber Sie müssen zugeben … Das ist bislang doch keinem einzigen Menschen gelungen …«
    Gummi war betrübt. »Sie also auch …«
    »Ich versichere Ihnen …«
    »Sie sagen auch, dass ich kein Mensch bin …«
    »Das habe ich überhaupt nicht gesagt!«
    »Sie haben gesagt: ›keinem einzigen Menschen‹. Carmen sagt auch: ›Du bist kein Mensch.‹«
    »Sie haben mich nicht richtig verstanden«, begann Davin zu erläutern. Er dachte in diesem Augenblick angeregt darüber nach, was für eine Verbindung es wohl gebe zwischen Wahnsinn und der Fähigkeit, logisch zu denken. ›Womöglich sind makellose logische Gedankengebäude eine Art Merkmal. Das normale Denken ist ja gerade alogisch. Die Mechanik des gesunden Denkens läuft darauf hinaus, dass man nicht zur Kenntnis nimmt, auslässt, die Reihenfolge ändert … Überspringung, Übertragung … da müsste es ein Wort geben … Gibt es vielleicht schon … Das Denken verläuft gleichsam in zwei Schichten, die von ihrer parallelen Existenz nichts ahnen: in der Tiefe ein stummes, uraltes Wissen, und obendrüber die Politur des Logischen zur Selbstverblendung, als Festgewand. Das Unbenannte ist von einer unordentlichen Schicht von Benennungen, von Wörtern überdeckt … Wie klingt das vorerst noch leer, unbestimmt, nicht treffend! Aber da ist etwas, eine Gesetzmäßigkeit, eine Mechanik … Das benennen, das verkünden! nachdenken, darüber nachdenken!‹ Er gab sich diesen Auftrag für die Zukunft.
    »Die Leute verstehen einfach nicht, was Fliegen bedeutet«, beklagte sich Gummi. »Die Vögel fliegen natürlich auch. Aber die Menschen sind ja keine Vögel. Die Menschen fliegen anders. Sie sind dafür nicht so eingerichtet wie die Vögel. Die Menschen wissen nicht, wie sie eingerichtet sind, und glauben, nur die Vögel würden fliegen. Natürlich kann man sich nicht vorstellen, dass ein Mensch fliegt wie ein Vogel. Und da lachen sie über mich. Ich wedle aber nicht mit den Armen wie mit Flügeln, wenn ich fliege. So geht das nicht.«
    ›Dieser Idiot ist allerdings erstaunlich feinsinnig‹, dachte Davin. ›Kein Äquivalent … wie immer gibt es kein Äquivalent! Was entspricht wem? Wo ist es Geist, wo Wahn? Pure Übereinkunft, deren Zynismus abgemildert ist aufgrund noch einer Übereinkunft, und die wiederum ist vergessen. O Gott!‹ Davin explodierte auf einmal innerlich. ›Werde ich heute auch nur einen Gedanken zu Ende denken!‹
    »Es ist genauso einfach wie jede andere Fähigkeit, wenn man sie hat. Und genauso unerreichbar, wenn man sie nicht hat. Eine gewöhnliche Fähigkeit wie alle anderen auch. Ist es denn weniger erstaunlich, Düfte zu riechen? Gibt es bei Gott überhaupt etwas, das nicht erstaunlich und nicht wunderbar ist?«  
    ›Du lieber Himmel!‹ flehte Davin. ›Er kann so nicht reden! Hat er das jetzt gesagt oder habe ich es gedacht? Ja, stimmt schon, Verrücktheit ist ansteckend …‹
    »Dann zeigen Sie es mal«, sagte er, ohne den Tonfall zu mäßigen.
    »Sie glauben mir nicht …« Der Kummer, der sich augenblicklich ausbreitete, Gummis Gesicht überflutete, war so tief, dass der Doktor nach Luft rang und fast aufgeschrien hätte vor Verzweiflung. Nein, das ging über seine Kräfte.
    »Ich soll Ihnen nicht glauben?!« Zum erstenmal verlor er tatsächlich die Fassung. »Ich glaube Ihnen doch gerade!« Er schrie, dabei verfiel er einem menschlichen Irrtum, der so groß ist wie menschliche Arglist, nämlich dass Grobheit ein Ausdruck von Aufrichtigkeit sei. »Ich glaube Ihnen!«
    »Verstehe.« Gummi nickte betrübt und fügsam. »Mir glauben Sie zwar, an mich glauben Sie nicht …«
    »Hören Sie, Gummi! Sie sind ein erstaunlicher Mensch! Doch, ich sage Ihnen das ganz im Ernst, ich lache nicht, Sie sind ein unglaublicher Mensch! Sie begreifen ja selbst nicht, was für ein …« Je mehr er auffädelte und den Tonfall präzisierte, desto verlegener wurde er: Wie viele Wörter muss man aufwenden, um jemanden an etwas glauben zu machen, woran man selbst nicht glaubt? Eigentlich sind Wörter ja nur dafür erforderlich. Alles übrige – existiert. ›Notwendig und ausreichend‹, dachte er mit einem Seufzer. ›Besser, ich wäre Mathematiker

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