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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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aufgetürmten Holzscheiten war nur Gummis sinnloser Kopf zu sehen. Bald tauchte er auf, bald verschwand er, der Axt hinterdrein. Gummi sang, und als Doktor Davin hinhorchte, vernahm er erstaunt die Worte:
     
    Blick ich über das Land
Hoch vom hölzernen Mond,
Seh ein Mädchen ich stehn
Mit dem Rücken zu mir.
Darum sieht sie auch nicht,
Den, der beides erblickt,

Sehen kann sie ja bloß
Eine Hälfte des Monds.
Ja, ja, ja …
     
    Dieses traurige Liedchen sang er sehr fröhlich, womit er auch den Sinn, den man bei viel gutem Willen darin entdecken konnte, sogar noch widerlegte. Der Doktor musste grinsen, und sein Neid war verflogen. ›Also wirklich, ich kann doch nicht Gummi beneiden, weil bei ihm die Holzscheite so leicht nach allen Seiten fliegen, während bei mir die Wörter sich so mühselig einstellen! Das sind in der Tat verschiedene Dinge.‹
    »Liebe Joy«, schrieb er, »ich bin gänzlich im Bann neuer Gedanken, die von Grund auf die Situation der heutigen Psychiatrie verändern – heißt das womöglich, dass gerade jetzt die Fundamente der modernen Wissenschaft gelegt werden? Ich glaube, wenn wir unsere Praxis der tiefgehenden Individualanalyse jedes Einzelfalls unterordnen würden, zerfiele die Wissenschaft in die Zahl dieser Fälle, pro Leben jeweils ein Fall. Nur grobschlächtiges Arbeiten, einträglicher Aktionismus sowie die praktische Unbegabtheit und Unachtsamkeit des Praktikers führen zur Verallgemeinerung und zur Gruppierung der Psychen nach den vagsten und barbarischsten Merkmalen. Außer ihrer Funktion bei gerechtfertigtem Freiheitsentzug oder Pflegschaft in Fällen offenkundiger Pathologie (und gerade diese Funktion üben wir längst nicht auf christlichem Niveau aus) muss man sich eingestehen, dass unsere Wissenschaft zu gar nichts ein Recht hat. Das Recht, eine Seele zu heilen, darf niemand haben, außer wer liebt und selbst eine Seele hat«, schrieb er und lieferte sich so mit all seinem Feinsinn und der Lauterkeit seiner Absichten Joys wohlmeinendem Urteil aus.
    »Wir sind in der Lage, ein primitives Ideal zu zerstören, sind jedoch nicht in der Lage, an seiner Stelle ein geräumigeres zu errichten, in dem auch Platz fände, was wir zerstört haben. Wenn dem Menschen ebensoviel Geld bezahlt würde für das, was ihm entspricht, statt für das widernatürliche Verhalten, mit dem er sich dem Erfolg angepasst hat, fühlten ein Premierminister und ein großer Wissenschaftler sich endlich mit Beha
gen am rechten Ort und wären entsprechend glücklich, ständen sie jetzt an der Stelle des holzhackenden Gummi. Wenn eines jeden tiefinnerliches Geheimnis enträtselt und jedem darauf eine schlichte Betätigung geboten würde, die ihm Freude bringt, verfiele die Welt in Schwachsinn und bräche auf Erden das Goldene Zeitalter an. Die Menschen sind nur aus Furcht vor Einsamkeit nicht alle verrückt, nur weil sie andere neben sich haben – und sie sind alle verrückt, weil sie die allgemeinen Übereinkünfte des Daseins akzeptieren, ohne sie mit dem Verstand zu enträtseln. Echte Arbeitstherapie ist nur im Paradies möglich. Die einzige Erklärung für das, was ich als Mensch tue, ist die ›Mir-selbst-Entsprechung‹, aber diese Entsprechung habe ich bloß mir selbst verordnet. Weshalb sonst bringe ich es nur so schwer, nur mit Gewalt fertig, das zu tun, was ich nicht bloß für meine Pflicht, sondern auch für meine Berufung halte? Einzig deshalb, weil andere ihnen genausowenig entsprechende Dinge noch schlechter tun als ich? Aber heißt das nicht, dass sie in ihrer Unfähigkeit, mit Eifer das zu tun, was ihrer Seele nicht entspricht, einfach normaler sind als ich, dass sie, Faulpelze und Nassauer, in diesem Sinne Gummi näher sind, ihrer Natur näher sind, zumindest sich nicht vergewaltigen? Die Trägheit des Spießbürgers ist natürlich. Die Präzisierung der Welt hingegen, jene höhere ›Natürlichkeit‹, die ich durch mein angebliches Genie rechtfertige, ist eitler Blödsinn, amoralisch, gleich null.«
    Er las es durch und wunderte sich. ›Lyrik, puh!‹ Verlegen runzelte er die Stirn. ›Was hat mich da befallen! Zu einem müßigen Provinzler bin ich geworden. Wie peinlich … Ja, Joy hat recht … Fahren wir. Und wäre es nach Petersburg, aber nach Europa. Wie konnte ich in meinen Wunschträumen von einem schöpferischen Höhenflug annehmen, Einsamkeit und Isolierung und Vermeidung aller Ablenkungen ergebe günstige Arbeitsbedingungen? Quatsch! Außerhalb eines Milieus, das an meiner

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