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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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geschmeichelt, verwirrt und bekümmert. Er präzisierte, erneut die Finger zum Kreis zusammengelegt:
    »Das da«, was er da zeigte, »ist das ein Kreis oder ein Loch?«
    Der Doktor war am Ersticken, die Augen traten ihm aus den Höhlen. Lachen konnte er nicht mehr, sprechen und atmen
auch nicht. Sein Gesicht wurde vom Blutandrang dunkelrot, dann färbte es sich bedrohlich blau. Schließlich atmete er erleichtert aus, völlig von Kräften, und seine Miene verfinsterte sich. Er sah Gummi nun mit anderen Augen an; ein Gedanke, den er nicht begriff, nicht erkannte, schoss ihm übers Gesicht, und in seinem Blick tauchte so etwas wie eine Entscheidung auf, die er gar nicht gefasst hatte; etwas wortlos, unbewusst Endgültiges war geschehen. Etwas war zu Ende. Und in seinem Blick zeichnete sich jener letzte Trennungsschmerz ab, wenn es – der Abschied nämlich – für immer ist. Vielleicht schaut man so auf ein schon abgeschnittenes Bein … wieso eigentlich Bein? … na, einen Arm. Ist doch gleich, wenn sowieso klar ist, dass ohne.
    Das alles spielte sich im Doktor ab, obgleich er es nicht begriff. Dafür begriff es Gummi und erschrak. Er liebte ja den Doktor. Doch jede Liebe lebt von etwas , und wo soll sie hin, wenn sie nun mal da ist, das letzte Krümelchen von diesem Etwas jedoch nicht mehr da ist?
    Eine Trennung ist immer zweiseitig. Bloß nimmt der eine vom Körper Abschied, der andere – vom Leben.
    Gummi schaute voll Angst auf den Doktor. Er hob die Augen zu Joy, und Gram und Schmerz der endgültigen Erkenntnis zermarterten ihm die Seele. Und er blickte auf den Doktor voll Entsetzen.
    »Sie lieben Joy nicht …«, flüsterte er.
    »Raus mit dir!« sagte der Doktor mit eiskalter Stimme. »Ich kann dir deine alberne Frage nicht beantworten.«
    Und Gummi trottete davon. Sein Blick schweifte über den Hof, über die Holzbeuge – alles hatte seinen Sinn verloren. Er war allein. Wieder allein, jetzt aber konnte er das nicht mehr ertragen.
    Gummis kristallklares Bewusstsein trübte sich (wir meinen das wortwörtlich). Sein Blick wurde kürzer und flacher, die Gesichtszüge erschlafften, auf den Lippen flackerte ein klägliches, welkes halbes Lächeln; seine Gedanken drängten sich in der für Gummi untypischen Form von Überlegungen. In gewissem Sinn war er normaler geworden, überlegter. Ein alltäg
licher menschlicher Zustand – dass man eine Bedrohung spürt und ihr ausweicht (vor ihr davonläuft) – versetzte ihn in panische Verwirrung, eben aufgrund ihrer Zweiteiligkeit. ›Irgendwas muss ich machen, irgendwas sofort unternehmen … Ist alles nicht so schlimm, wird alles wieder gut‹, redete er sich selbst zu, doch das hoffnungslose halbe Lächeln verriet ihn. ›Der Doktor ist bloß böse auf mich, weil ich ihm nichts vom Mond mitgebracht habe. Ich bringe ihm einen schlagenden Beweis, finde irgendwas ganz Gewichtiges. Er wird mir verzeihen, und seine Liebe zu Joy wird zurückkehren. In Wirklichkeit ist er ja ein sehr guter Mensch … Ja, genau so, beschlossen!‹ Und Gummi schritt wackerer aus, schaute fröhlicher drein – er munterte sich auf mit kläglicher menschlicher Munterkeit.
     
    Der Doktor aber kam mit der Feder nicht dem Denken nach, mit der Hand nicht der Feder, wobei er gewaltig abschweifte von der Antwort auf Gummis Frage, was O denn nun sei.
    »Geist und Materie sind überhaupt nicht verschieden, nicht heterogen. Die Gegenstände der sogenannten Außenwelt bestehen aus bestimmten Kombinationen und Relationen derselben Elemente von Empfindungen und Intuitionen, die in anderen Relationen den Inhalt der Seele ausmachen. Die materiellen Dinge und die Seele sind zum Teil, kann man sagen, aus ein und demselben Grundmaterial gewebt.
    Binarität des Lebens oder Eindeutigkeit des Wahns? Flackern des Daseins oder Fanatismus der Idee? Das Leben fließt auf der Ebene der Zeit, und auf dieser Ebene unruhig in der Vertikalen, wenn es etwas Höheres berührt, sich wegbewegt und es erneut berührt. Es flackert und schimmert in doppelter Widerspiegelung. Im Grunde ist es ein Bildsystem mit negativem Vorzeichen: Leben ist eine Widerspiegelung des Bilds. Bild und Realität … Wie in der Poesie bedarf es eines Namens, damit ein Bild entsteht, und zugleich der Tilgung des Namens (damit das Fließen festgehalten wird, aber nicht angehalten).
    Zwiegespaltenheit ist die Voraussetzung der Ganzheit. Die gesunde Persönlichkeit ist klar zwiegespalten. Die Spaltung
der Persönlichkeit als Krankheit ist

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