Der Symmetrielehrer
klemmte unter die Türklinke einen massiven Bergstock, den er zur Sicherheit noch mit einer Schnur festband, und so kam er allmählich zu sich. Sauste aber weiterhin durchs Arbeitszimmer, da sein Isolierungswerk noch nicht vollendet war. Er stürzte zum Fenster, warf auch das mit übertriebener Hastigkeit zu, damit vom Wind nicht einmal ein Molekül reingeweht werde, damit nicht die geringste Spur … Am Fensterriegel riss er sich den Fingernagel ein. Und während er auf einem Bein hüpfte, abscheulich fluchte und den Finger schüttelte, traf ihn Joys Blick …
Lange stand er mitten im Zimmer, innerlich vollkommen leer, und in dieser Leere klirrte es leise. Ewig stand er so, sei es eine Stunde, sei es eine Sekunde … Ein durchsichtiges Gefäß, ging er zum Fenster, bemüht, nicht irgendwo anzustoßen, nicht zu zerbrechen; lautlos und geschmeidig machte er es auf. Die Welt blickte ihn an. Gras, Sonnenflecken, Holzbeugen.
›Im Hof ist Gras, im Gras ist Holz‹, dachte der Doktor.
Gummi war nicht im Hof. Und Davin spürte rund ums Herz eine so ungewohnte, unbegreifliche Liebeswärme! ›Gummi …‹, dachte er. Da wurde dieses erwärmte Herz von etwas Äußerlichem, Kaltem zusammengepresst, und etwas unsichtbar Fremdes schlug von außen auf das zusammengepresste Herz. Es schepperte wie in einer Blechdose.
›Mein Gott! dass ich bloß nicht zu spät komme, bloß nicht zu spät komme!‹ betete der Doktor und stolperte beim Laufen.
Auf dem Revier hörten sie ihn dreimal an: erst Korps, welcher ihn an Glums verwies, danach Glums, der ihn an Goms verwies. Goms wiederum schickte ihn zu Korps zurück.
»Holzköpfe!« schäumte der Doktor. »Sie begreifen einfach
nicht! Sie müssen sofort eine Suchaktion aufnehmen. Er kann wer weiß wo sein!«
»Nun denn«, sagte Korps, »was hat er Ihnen gestohlen?«
Als er abends, entkräftet von der sinnlosen Suche, zu seinem Irrenschloss zurückkehrte, empfing ihn dort Carmen, vom langen Warten schon halb in der Dämmerung aufgelöst.
»Gummi …«, sagte sie und hielt ihm einen Papierfetzen hin. Davin riss ihr das Papier aus der Hand und bewegte es lange und kurzsichtig vor den Augen, während er versuchte, es gleich hier im Dunkeln zu lesen. Er zündete ein Streichholz an.
Niemand braucht mich –
aber jemand konnte meine Begabung brauchen.
Es ist ganz einfach, auf dem Mond zu landen,
aber vom Mond aus ist der Mond nicht sichtbar.
Wenn du dir Liebe erkämpft hast,
verlierst du die Liebe in dir.
Auf dem Mond wird mich niemand nach der Erde ausfragen.
Die Erde ist nur vom Mond aus sichtbar –
aber das habe nur ich gesehen.
Niemand kann meine Begabung brauchen –
aber auch mich braucht niemand.
Verzeih, Carmen …
ich – bin kein Mensch.
Davin hatte sich die Finger verbrannt und schüttelte seine Hand.
»Begreifen Sie das?« fragte er.
»Sie haben ihn umgebracht«, sagte Carmen.
Die Beschuldigung verletzte ihn nicht.
»Wo ist er?«
Und sie fanden ihn – einen verkohlten Klumpen Fleisch. Merkwürdig hineingedrückt, hineingerammt ins saftige Erdreich der Schwemmwiese an einer Schleife des Cool-Palm-River. Wie eine Granate war er in die Erde gedrungen. Sie erkannten ihn an dem zum Knoten geschlungenen Fahrradlenker.
Der Doktor untersuchte die Leiche. Die Verletzungen waren von einer Art, dass kein Sadist, rein technisch gesehen, dazu imstande gewesen wäre. Nur ein Sturz aus großer Höhe konnte zu einem solchen Ergebnis führen. Doch nach einem Eiffelturm hätte man auf diesem freien Feld vergeblich gesucht. Auch im ganzen Bundesstaat hätten sie keinen gefunden.
Davin schaute wehmütig zum Himmel hoch. Das war kein Schmerz und kein Gram. Das war Entsetzen der Vernunft, Aufreißen des Bewusstseins, Verzweiflung über einen Schiffbruch, erlitten mitten auf dem Ozean. Er schaute zum Himmel hoch, als projizierte er darauf die Flugbahn von Gummis Sturz – dort war alles klar, leer, stumm, dort war nichts. Und als sein Blick über die undurchdringlich blaue Kuppel glitt, da erblickte er am Rand der Wiese, über dem Waldsaum – die graue Zigarre des Luftschiffs.
Davin packte seinen Kopf, als suchte er ihn zu zerdrücken, heulte auf und rannte los, krumm und schief, stolpernd und strauchelnd, aber ohne die Hände zu lösen. So rannte er und hielt seinen Kopf in den Händen.
Während ermittelt wurde, steckte Davin in einer tiefen Depression; sein Zustand erfüllte die Kollegen mit Besorgnis. Während er im Bett lag, zur Wand
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