Der Symmetrielehrer
er es nur für fremd, ähnlich wie jeder fortschrittliche Mensch sich allem Angeborenen als einem Atavismus widersetzt. Merkwürdig, aber gerade dieser überzeugte (interessantes Wort … durch wen eigentlich?), selbstsichere Mann ertappte sich dabei, dass er in Gesellschaft des intellektuell nicht konkurrenzfähigen Gummi aus dem Gleichgewicht geriet. Man sollte meinen, ein derartiges Gefühl hätte angesichts des Lebens und der Welt nicht er, sondern Gummi empfinden müssen: diese beständige Unfähigkeit, teilzunehmen an irgend etwas Allgemeinem, das allen – im Spiel, im Tanz – offensteht, also an jeder beliebigen Kollektivhandlung. (Wir kennen dieses Gefühl der Niederlage, wenn wir als Kind nicht mitspielen durften, dieses Verlassenheitsgefühl und den Neid beim Blick von außen auf die ganze Fröhlichkeit, ein Gefühl übrigens, keineswegs vergleichbar der Bangigkeit, ja sogar Angst und quälenden Beklommenheit, wenn wir ins Spiel mit einbezogen wurden und der Wunschtraum sich augenblicklich in Zwang verkehrte.) Also, nicht Gummi, sondern Robert empfand dieses Gefühl von Unfähigkeit und Ausgeschlossensein, fast zum erstenmal seit fernen Kinderzeiten, und zwar neben Gummi. Er beneidete ihn beinahe, was für ihn äußerst ungewohnt war,
denn er beneidete niemanden, dank seiner Priorität genügte er sich selbst, und mit einemmal empfand er Neid auf den Entrechtetsten des Menschengeschlechts, einen Schwachsinnigen. Ob Neid oder nicht Neid, die Nuancen sind da unerschöpflich. Sagen wir, in einem Augenblick besonderen Gefühlsüberschwangs, wenn er ein ungewohntes Zwicken in der Herzgegend verspürte, konnte er sogar mutmaßen, seine Sympathie für Gummi rühre von einer gewissen Verwandtschaft her: »Er ist ähnlich, wie ich als Kind war« oder »Als Kind war ich ihm ähnlich« – etwas in dieser Art, ein Erkennen . Und ein Bedauern: »Aber jetzt bin ich nicht mehr so« oder »Früher, da war ich vielleicht besser« – ohne fortzufahren, was denn schlecht geworden sei. »Habe den Idioten in mir getötet«, flüsterte er sich einmal sogar zu. Fasste sich aber an den Kopf. Überhaupt fasste er sich ständig an den Kopf, ließ er die Zügel nicht schießen. »Bloß nicht, bloß nicht«, redete er sich ein. »So gelangt man zuletzt noch …« Wohin? »Eindeutig, Dummheit ist ansteckend«, entschied er. Er genierte sich vor sich selbst, wie man sich sonst vor anderen geniert. Aber niemand nahm eine Absicht an ihm wahr, und beim Wort hätte er sich ohnehin nicht nehmen lassen.
Natürlich entdecken wir, wenn wir in jene Zeit zurückblicken, in vielerlei Hinsicht eine größere Anständigkeit am menschlichen Verhalten. Dass der Doktor mit seiner fortschrittlichen Weltanschauung noch nicht fähig war, zu kränken, zu beleidigen und zu verletzen, von Flegeleien ganz abgesehen, sollte nicht seinem Zartgefühl als Verdienst angerechnet werden. Die Zeit war noch nicht soweit, das sollte erst noch kommen. Also, trotz dieser potentiellen Zartgefühllosigkeit konnte er nicht anders, als beim Umgang mit Gummi wegen seines Spähertums eine gewisse Beklommenheit zu verspüren. Gummi war – da war er. Davin nicht. Er prüfte Gummi und verspürte Beklommenheit, diese halbe Scham über sich selbst, über seinen erkalteten Blick des objektiven Beobachters. Gummi spielte überhaupt kein Spiel. Und Robert, konfrontiert mit Gummis ungewöhnlicher Eindeutigkeit, Adäquatheit, schlicht: Aufrichtigkeit, spürte heftige Stiche der Scham, und sein Denken be
kam eine wissenschaftsfremde moralische Nuance – es schärfte sich. Natürlich verallgemeinerte der Doktor, griff weit aus (weit ausgreifend nachzusinnen ist häufig kein schlechter Ausweg aus einer moralischen Klemme: ein bisschen nachgesonnen, schon ist es, als wäre was getan …), dachte über die Natur menschlicher Kontakte nach, über die Ungleichheit in der Natur, über die Psychologie des Kontakts zwischen Ungleichen, über die Unmoral ungleichen Umgangs …
Die Menschen können niemals richtig zusammenkommen, das war sein Schluss. Sich anzupassen gelingt nie. Aber wie, was dann? Und wenn – Liebe? Einzig die Liebe stellt gleich und macht Kontakt möglich, ist doch jeder Umgang ungleich, denn kein Mensch ist dem anderen gleich. Die Liebe! nur sie. Was sonst, samt Alt und Klein? Liebe … Joy … der Sohn (den es nicht gab, aber geben könnte) … Zuletzt ertappte er sich jedesmal beim Zweifel an dem, was keinem Zweifel unterlag: Liebte er Joy, liebte sie
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