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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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gedreht und ohne auf Fragen zu antworten, kam die Ermittlung von selbst zu einigen Schlussfolgerungen, und der Mordverdacht (von den Taunussern einhellig unterstützt) wurde von ihm genommen. Diese Schlussfolgerungen führten die Ermittlung jedoch in eine Sackgasse.
    Die Expertise bestätigte, dass kein Mensch imstande gewesen wäre, Gummi eine solche Vielzahl von Verstümmelungen zuzufügen. Dass derartige Traumata sich nur auf eine einzige Weise beschreiben ließen: als Ergebnis eines Sturzes aus großer Höhe. Die Lage, in der Gummis Leiche gefunden worden war, und die Deformation des Erdreichs unter ihm entsprachen exakt einem solchen Befund. Diese Eigentümlichkeit des Vorfalls absichtlich herbeizuführen, dazu wäre ein Mensch genausowenig fähig gewesen, wie dem Opfer so einheitlich und konsequent die Knochen zu zermahlen. (Und es war dies die
Zeit, als die Gerichtsexpertise sich zu ungeahnten Höhen aufschwang, als ihr Ruhm weithin schallte, als der Experte vor den Augen des hingerissenen Publikums etwas aus dem einen Reagenzglas ins andere goss, Tabellen mit ballistischen Flugbahnen ausstellte und den Verlauf der größten Skandalprozesse umkehrte; Opfer und Angeklagte tauschten die Plätze, die Gerechtigkeit triumphierte, und die Karrieren von Kriminalisten strahlten auf und brannten durch wie Edisons Glühlampen.) Nein, versicherte die Expertise, der Leichnam war nicht vom Ort des Verbrechens aufs Feld geschleppt worden. Aber warum war die Kleidung verkohlt und das zerdrückte Gras nicht? Und dann, Sie entschuldigen, von wo hätte er denn fallen sollen?
    Hätte sich dergleichen in unserer Zeit mit ihren Flugzeugen ereignet oder in einer noch späteren mit ihren Hubschraubern und Raketen oder in einer noch ferneren mit ihren Wesen aus dem Kosmos und fliegenden Untertassen, so hätte es für die Phantasie des Normalbürgers zumindest eine Spalte gegeben, in die sich das Geheimnis hätte wegstecken lassen. Jede Zeit hat ihre Banalitäten und ihren Aberglauben. Sagen wir, auf einem unbekannten Planeten im Sternbild des Alphabetos kommt es zu einem Volksfest, einer Freudenfeier aus Anlass der wohlbehaltenen Rückkehr des Kosmonauten-1 vom bewohnten, wenn auch auf extrem niedriger Entwicklungsstufe befindlichen Planeten Erde. Und keiner der Planetenbewohner beweint den unbekannten Helden, den Kosmonauten-0, umgekommen bei Ausübung seiner …, nicht zurückgekehrt von der Erde, keiner weint über den armen Gummi, weil in seiner Heimat keiner von ihm weiß, wie sie auch vom Kosmonauten-1 nichts gewusst hätten, wenn er nicht zurückgekehrt wäre. Dann wären Gummis merkwürdige Verplapperer, dass er sich lange in einer unverständlichen durchsichtigen Pleura befunden habe, seine unerklärliche Fähigkeit zur Ortsveränderung im Raum und seine Behauptung, er sei kein Mensch, uns irgendwie verständlicher. Auch zahllose andere Vermutungen könnte man aufspießen, insbesondere auch zu seinem Tod: dass er zum Beispiel ein Wesen aus dem Kosmos sei, herunter
gefallen von einer fliegenden Untertasse, oder dass er kein Wesen aus dem Kosmos sei, sondern aufgelesen wurde von einer fliegenden Untertasse, wo er sich zwar von künftigen Möglichkeiten der Zivilisation einiges angeeignet habe, sein normal menschlicher Kopf jedoch zu Schaden gekommen sei.
    Aber das sind alles Banalitäten und Aberglauben unseres künftigen, des 20. Jahrhunderts, während in der von uns beschriebenen Zeit Ende des 19. Banalitäten wie Aberglauben ein wenig anders aussehen. In dieser Zeit triumphiert die naturwissenschaftliche Weltanschauung derart, dass die absolute Erklärbarkeit und Erschließbarkeit aller Dinge durch die Wissenschaft wohl der einzige Aberglaube ist. Eine jede übernatürliche Erklärung hätte beim gebildeten Publikum Verachtung hervorgerufen. Darum entfallen auch alle Erklärungen mystisch-dekadenter Art, die ein wenig später in Mode kamen (zur Zeit des Jugendstils) und die mit Tibet, Magiern und dergleichen zu tun haben, ein präkatastrophaler Krampf des Intellekts, der uns allerdings hilft, Gummis Gefasel über das Kloster in Kambodscha, die Persönlichkeitsspaltung und die Flüge einer losgelösten, körperlosen Substanz im Geiste von Henry Rider Haggard und Jack London zuzulassen.
    Solcherart Erwägungen entfallen somit, da sie für die Kriminalistik als Wissenschaft nicht erschließbar sind. Es bleibt also nur, wenn wir den Rahmen materialistischer Anschauungen nicht verlassen wollen, das Luftschiff an den Kiemen zu

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