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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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dagegen das Aufbrechen eines eindeutigen, d. h. monolithischen, festen, jedoch zerbrechlichen Verhältnisses zur Wirklichkeit. Kein Zwang einer Idee oder eines Verhältnisses kann die beiden Ebenen, zu denen jedes Teilchen in einem Verhältnis steht, zur Deckung bringen. Die natürliche Zwiegespaltenheit befindet sich im Zustand eines ständigen und niemals gelingenden Verschmelzens; die Persönlichkeitsspaltung als Krankheit ist der Triumph des Lebens über das jämmerliche Bestreben, in ihm ein System zu finden (und wenn man keines findet, sich mit einer Zwischenversion zufriedenzugeben, ihr Glauben zu schenken und später, im Rückblick, zu versuchen, sie dem Leben aufzudrängen), ist gleichsam die natürliche Erosion der nichtlebendigen Natur …«
    Doktor Davin skizzierte voll Enthusiasmus seine berühmt-berüchtigte »Homonymentheorie«, die nach seinem Tod in seinen Papieren aufgefunden wurde und seinem Namen zusätzliches Leben einhauchte, und das in einer nagelneuen Wissenschaftsdisziplin, die soeben erst ihre Unabhängigkeit erklärt hatte wie ein neuer südamerikanischer Staat. »Homonyme kommen deshalb in der Sprache selten vor, weil ihr Auftauchen ein technischer Defekt des Systems ist, jener Zufall, der die Regel bestätigt. Das zwiegesichtige Wort ist das verrückt gewordene Wort. Denn jedes Wort ist nur sich selbst homonym. In jedem Wort schillert die Zwiegespaltenheit in Zeichen (Stillstand) und fließende Bedeutung des Bezeichneten (Leben).«
    Unterdessen schritt Gummi erregt und voll Tatendrang übers Feld, hob dabei die Füße hoch, um die im Gras stehende Hitze möglichst wenig zu behelligen. Unter seinen Füßen stoben Heuschrecken auf. Er lächelte, er glaubte an den Erfolg. In den Händen hielt er einen Fahrradlenker.
     
    »Etwas anderes sind Wörter gleichen Klangs«, schrieb Davin, »sie bringen eine nicht fassbare Wechselbeziehung zwischen Begriffen zustande und lassen sie wieder im Leben aufgehen. Poesie ist in diesem Sinne …«
    Er war bereits drauf und dran, den Sinn der Poesie zu formu
lieren, was vor ihm, muss man sagen, noch niemandem gelungen war, und nach der Definition der Poesie schimmerte bereits als Morgendämmerung, beinahe fassbar, der Begriff »Leben« … und wir sind ebenfalls sehr unglücklich, dass Gummi den Doktor daran hinderte, dies auszudrücken. Dennoch war der Doktor gewiss stärker verstimmt als wir …
    »Was ist denn nun schon wieder?!??« schrie er.
    Mit lautem Gepolter über die Schwelle stolpernd, stürmte der triumphierende Gummi ins Arbeitszimmer, in den Händen einen rostigen Fahrradlenker.
    »Das«, stammelte Gummi, leicht besorgt wegen des Empfangs, »habe ich Ihnen vom Mond mitgebracht.«
    Der Doktor ging in die Breite, schwoll an und stieg langsam über dem Schreibtisch hoch, formlos wie eine Wolke.
    »Doch, wirklich, sieht ganz genauso aus …«, stammelte Gummi, stürzte dabei kopfüber in den Abgrund der Verzweiflung und suchte sich dort an unsichtbaren Schicksalsklippen festzuklammern. Es war aber alles zu spät. Ihn würgte die Reue. Zum erstenmal im Leben hatte er es so gemacht wie alle Leute, nicht wie er selbst. Und nun hatte der Doktor das sofort begriffen – natürlich, war er doch klüger als alle auf der Welt … Und Gummis Lüge war doch tatsächlich so winzig und unschuldig …
    »Ich war heute sehr aufgeregt und konnte nicht fliegen«, bekannte Gummi reumütig, »und das letzte Mal hatte ich auf dem Mond ganz genauso einen gesehen … Ich wollte ja etwas mitnehmen und fand nichts Interessantes für Sie … Und heute sehe ich: ganz genauso einer … Bin mir nicht mal sicher, ob ich ihn nicht das letzte Mal mitgenommen habe …«
    Aber der Doktor hörte seine Rechtfertigungen nicht. Er hörte überhaupt nichts. Die ewig gültige Definition der Poesie hatte sich ein für allemal verflüchtigt. Der Zorn verdüsterte ihm die Sinne.
    »Bin gleich wieder da … bin im Nu zurück … ich bringe was Echtes …«
    Der Doktor brüllte und hörte sich selbst nicht. Gummi wölkte sich vor ihm wie eine Sinnestäuschung, wie ein Wahn, wie
brauner Dunst … Dann verschwamm er und tauchte wieder auf, mit dem Propeller eines zukünftigen Aeroplans in den Händen … Dann mit dem Bein eines riesigen Heuhüpfers, nicht kleiner als ein Pferdebein …
    Aber Davin sah nichts, er stieß die blinden Fäuste durch die Wolke von Geschluchze und kindlichem Geschnaube, schlug mit aller Kraft die Tür zu, sperrte sie mit dem Schlüssel ab und

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