Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
Vom Netzwerk:
glauben«, sagte Gummi traurig.
    »Wird ja immer besser!« staunte der Doktor. »Gerade erst hast du, scheint mir, das Gegenteil behauptet. Dass an den Erfindungen des Menschen nichts kompliziert ist, dass sie um einige Ordnungen tiefer stehen als alles Lebendige.«
    Gummi kaute vor lauter Unausdrückbarkeit.
    »Hast du mich nicht verstanden? Ordnung, Gummi, das bedeutet, wie soll ich sagen, soviel wie Ebene.«
    »Ich verstehe Ordnung. Ordnung ist, wenn alles richtig ist. Und richtig ist es, wenn alles an seinem Platz ist. Maschine wie Mensch wie Himmel. Ich habe gesagt, dass die Maschine deshalb komplizierter ist, weil sie nicht außen ist. Sie ist nicht von allein. Sie ist komplizierter, als uns das von außen vorkommt, weil nämlich … in ihr ist ein Teil unserer Kompliziertheit. Nicht wir sind komplizierter als sie, sondern sie ist einfacher als wir.« Von der Anstrengung dieser Rede schnaubte Gummi wie eine Dampflok. »Ich kann das nicht mit Wörtern sagen.«
    »Du wirst doch nicht bestreiten, dass der Mensch ebendeshalb zum Menschen geworden ist, weil er sich entwickelt hat, also erkannt, erfunden, gelernt hat? Der Mensch ist das Komplizierteste, was es auf Erden gibt, ebendeshalb, weil er mit dem Einfachen begonnen hat. Ohne Rad, Hebel und Segel wäre er auf einer primitiven Ebene geblieben.«
    Gummi litt. Sie gruben gleichsam von zwei Seiten einen Tunnel, ohne einander zu sehen; der Doktor suchte auf seiner Seite nach möglichst einfachen Wörtern, Gummi hingegen fand keine Wörter für das, was ihm ohnehin klar war.
    »Es ist noch komplizierter«, blubberte er.
    »Das heißt? Ich verstehe dich nicht, Gummi.«
    »Das Rad, der Hebel – das ist komplizierter.«
    »Komplizierter als die Lokomotive?!«
    »Natürlich.«
    »Ich versuche das mal auszudrücken, das ist interessant. Bedeutet dein Gedanke womöglich, dass der Ziegelstein komplizierter ist als das Haus, das Atom komplizierter als das Molekül, die Zelle komplizierter als der Organismus, dass überhaupt ein Element komplizierter ist als eine Zusammensetzung?«
    Gummi nickte freudig.
    »Aber warum denn komplizierter??« platzte der Doktor heraus.
    »Es ist mehr Geheimnis darin.«
    »Oho!« Davin war verblüfft und schien sogar begriffen zu haben, glaubte sich aber selbst nicht. Schließlich konnte Gummi ja nicht Dinge von solcher Kompliziertheit ausdrücken, wirklich nicht! Natürlich war der seltsame Gedanke – bloß, woher? – ihm von allein in den Kopf gekommen. Und wieder entschwunden …
    »Aber die Lokomotive, der Photoapparat, das Telephon … Du verstehst doch nicht, wie sie funktionieren? Das ist doch ein Geheimnis für dich?«
    »Das ist kein Geheimnis, das ist nur verborgen. Irgendwer kennt es. Ein Geheimnis ist etwas, das niemand kennt.«
    »Jetzt kennt man es nicht, irgendwann erkennt man es. Findet man, woraus das Atom besteht. Entdeckt man die Mechanismen der Zelle. Alles wird entdeckt, irgendwann ist nichts mehr ein Geheimnis.«
    »Das Geheimnis bleibt.«
    »Meiner Ansicht nach«, sagte der Doktor, »sind wir beide in unserem Gespräch wieder bei der Existenz von Gott dem Herrn gelandet.« Der Doktor war erbost, und ihn erboste zudem, dass ihm die Natur seines Unmuts nicht klar war, gerade als wäre dieser elementar wie das Atom, ließe sich durch kein Wörtersystem mehr fassen. »Du gehst doch nicht in die Kirche, du glaubst doch nicht an Gott, du hast doch schon zugestimmt, dass es ihn nicht gibt.«
    »Ich habe nicht gesagt, dass es ihn nicht gibt. Ich glaube nicht an euren Gott.« Gummis Augen wurden glasig, im Mundwinkel blubberten wieder Schaumblasen. »Er ist eure Maschi
ne, er ist euer Bauelement. Der Mensch kann nicht an Gott glauben, weil Gott nicht außen ist. Weil wir im Glauben drin sind. Wir sind ein Teilchen von Gottes Glauben …« Nun murmelte er wieder Unverständliches, der Doktor fasste sich an den Kopf und schämte sich für seine Grausamkeit.
    Da gerade holte Carmen die beiden ein. Sie zog die Ziege hinter sich her.
    »Gummi, komm mit nach Haus«, sagte sie streng und führte den fügsamen Gummi, und Gummi führte die Ziege. Wie ein blindes Kind ging Gummi hinter ihr her. »Eine Schande, Doktor«, sagte Carmen aufgebracht. »Sollten sich schämen, Doktor«, sagte sie, als sie sich ein letztes Mal umblickte.
    Der Doktor schaute den dreien lange und reglos nach.
     
    Davin schämte sich. Genauer gesagt, er war erbost über ein fremdes Gefühl, das ihm vielleicht tatsächlich nicht eigen war, vielleicht hielt

Weitere Kostenlose Bücher