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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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packen – ein Glück, dass es so passend in unsere Erzählung geflogen ist. Aber alle, die mit dem Luftschiff irgend zu tun hatten, verfügten, wie sich zeigte, über ein unanfechtbares Alibi. Das Luftschiff hatte sich nirgendwo hinbewegt und konnte sich gar nicht über dem Punkt befunden haben, wo Gummis Leiche gefunden worden war; dass die Flugbahn des freien Falls streng lotrecht war, unterlag keinem Zweifel, Newtons Autorität galt immer noch als unbestreitbar, und die Senkrechte, die sich über Gummis Landungspunkt ziehen ließ, stieß lediglich an den unbestreitbar nicht existierenden Herrgott. Die Mutmaßung des Ballistikexperten, Gummis Körper sei aus einer Kanone geschossen worden, wurde augenblicklich
zurückgewiesen und der pensionierte alte Artillerieoberst für übergeschnappt erklärt. Die Hypothese, Gummi sei vom Blitz getroffen worden, wurde voller Bedauern zurückgewiesen, insofern im Lauf von anderthalb Monaten kein Gewitter stattgefunden hatte. So blieb einzig und allein das Luftschiff … doch war dies nicht nur die Epoche, als die materialistischen Erklärungen triumphierten, sondern als das Gesetz auch voll Hochmut mit solchen Dingen wie Unschuldsvermutung umging, als angesichts der Unmöglichkeit einer Beweisführung eingefleischte Giftmischer und Sexualstraftäter dutzendweise aus der Haft entlassen wurden. Und das gebildete Publikum applaudierte dem Triumph der Gesetzlichkeit.
    Gummi hatte niemanden, weder Verwandte noch Bekannte, die Berufung hätten einlegen oder die Ermittlung wieder aufnehmen lassen können. Carmen, die einzige Testamentsvollstreckerin, verfügte, er solle an dem Ort begraben werden, wo sie ihn gefunden hatten, wo das Grab durch seinen eigenen Sturz schon zur Hälfte ausgehoben war. Ans Kopfende legten sie ihm jenen Lenker, wie später abgestürzten Aviatoren eine Luftschraube beigegeben wurde.
     
    Bloß Doktor Davin lag weiterhin mit dem Gesicht zur Wand, und wir werden jetzt nur sehr schwer formulieren können, welcherart Leiden zwar nicht seine Seele peinigten, aber sein Gehirn. Nicht Bedauern, nicht Reue, nicht Zweifel, und Schmerz empfindet das Gehirn selbst ja bekanntlich nicht. Bei ihm hatte sich dort gleichsam die leere Blase eines einzigen Gedankens gebildet, so etwas wie ein Luftschiff. Das war damals, am Rand des Feldes, hineingeschwebt in sein Bewusstsein, doch nicht wieder hinausgeschwebt. Was fand er an dem Luftschiff? Das Gehirn des großen Gelehrten plagte, dass die einzige Ursache, die zur Verwendung taugte und zur Erklärung des Geschehenen, ebendas Luftschiff, nicht für ihn taugte. Die einzig mögliche, das heißt präzise, logische, materialistische und folglich wahre Ursache, nämlich dass Gummi auf irgendeine Weise auf das Luftschiff gelangt und von dort herabgefallen war, taugte für ihn nicht deshalb nicht, weil er sie hätte widerlegen können,
denn widerlegen konnte er sie nicht. Letzten Endes war er der erste, der Gummi erblickt hatte und dann das Luftschiff und auf einzigartige Weise beides als Ursache und Folge in seinem Gehirn zusammengebracht hatte. Aber gerade diese Verbindung wurde dünn und riss, hielt nicht stand und erklärte nichts. Sie taugte nicht für Davin. Einzig deshalb taugte sie nicht für ihn, weil er daran NICHT GLAUBTE . Und in diesem » NICHT GLAUBTE « lag somit, dass gerade er an Gummis unerklärlichen Sturz aus großer Höhe glaubte, an das, was kein Mord war, sondern SELBST mord war (als dessen indirekte Ursache er klar sich selbst erkannt hatte, aber gerade das kam ihm, in seiner Gehirnespein, als unwesentlich vor), und falls es Selbstmord war, so gab es auch den Mond, einen braunen, mit Fahrradlenker, der dort im tiefen Staub herumlag. Doch auch nicht das plagte ihn, sondern unerträglich an seinem NICHT glauben an das Luftschiff war die Tatsache des GLAUBENS . Ohne NICHT .
    Und das konnte er niemandem erklären. Um ihn zu pflegen, kam die aufopferungsvolle Joy angereist, bereit, ihm bis zum Ende seiner Tage den Speichel abzuwischen … er stand schweigend vom Sofa auf, schob den Packen Manuskripte in den Koffer, und sie reisten nach Europa. Die Abreise des Doktors beeindruckte die Taunusser. Und insofern dann gut anderthalb Jahrzehnte nichts mehr passierte und sie sich dann – nun ging es aber los! – auf einmal tatsächlich im zwanzigsten Jahrhundert mit seinem Fortschritt, dem Krieg und der Krise wiederfanden, hatte merkwürdigerweise gerade die Abreise des Doktors als das einzige vorausgegangene

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