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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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glauben. Somit glaubte ich nicht nur ihm, sondern auch Ihrer Majestät nicht! Jetzt bin ich auf beide stolz, denn Anton war eine lebenslange Pension zugesprochen worden, die er auch erhielt, bis 1927, als die Sowjets die diplomatischen Beziehungen zu unserem Land abbrachen. Da musste er in sein Fathers zurückkehren … Aus einer Nähmaschine und noch irgendeiner Maschine baute er ein Fahrrad zusammen und heuerte an bei den Briefträgern vor Ort. Bald ging es um die Organisation einer Kolchose, und er war der erste, der die Idee unterstützte. Ich vertraute auf seine Zugehörigkeit zur Postbehörde und schrieb ihm frohgemut einen Brief, bekam jedoch nie eine Antwort.
    Erst an die zehn Jahre später bekam ich meinen Brief zurück, er tauchte gleichsam aus der Zeit auf wie eine Erinnerung. Er war geöffnet worden und schien noch lange in einer Pfütze gelegen zu haben. Aber meine Seiten waren, leicht verschwommen, alle vorhanden; dazwischen hatte sich ein schöner Schmetterling verfangen, er war sogar besser erhalten als der Brief. Quer über der ersten Seite stand mit rotem Bleistift fett und groß etwas geschrieben, wie eine Resolution. Derselbe befreundete Slawist half mir, es zu entziffern:
     
    VERBINDUNG MIT DEM AUSLAND TTSCHK SELBST UMGEKOMMEN TTSCHK BLITZSCHLAG TTSCHK [ 30 ]
    (Unterschr. unleserl.)
     
    Killed by lightning … Wirklich, bei den Russen kann es keine Sujets geben. Bei ihnen ist alles noch Schicksal …
    Das war 1932 gewesen. Alles, alles fing erst an.
    Ich weiß noch, auf die Frage, was aus Russland einmal werden solle, hatte Anton immer die Schultern gezuckt. »Zwischen zwei Dingen zu wählen«, sagte er einst, »dazu ist der russische Mensch nicht befähigt; immer wird er wählen, was größer ist, und nicht, was besser ist. Darum hat er es bei Alleinherrschaft leichter. Die ist bei uns jedoch altersschwach. Folglich wird es zu einer Spaltung der Alleinherrschaft kommen … Nicht von ungefähr ist ja der Doppeladler plattgedrückt und schaut in entgegengesetzte Richtungen!« Irgendwas hatte er da im Sinn.
    Damals begriff ich das nicht. [ 31 ]
    Tischkin? Ah ja, den habe ich völlig vergessen. Habe meinen Helden vergessen. Also ist mir kein Sujet gelungen.
    Dabei handelte Antons halber Brief von ihm! Hier nun begriff ich überhaupt nichts mehr. Eine Art neuer Theorie der Zeit wurde dargelegt; mein Freund übersetzte sie mir vom Blatt, so gut er konnte … da gab es einige schöne, sogar poetische Gedanken über die Natur der Zeit, die irgendwie an meine Gespräche mit Anton im Pub erinnerten. Nicht nur um die berüchtigte Grenze zwischen Zeit und Raum ging es, sondern auch darum, dass diese Grenze quasi von einer Art Kolben oder einer Art Höherer Kraft verschoben werde, und eben sie sei die Zeit , dass sich hinter dem Kolben ein ausgedünnter Raum bilde, er werde Vergangenheit genannt oder Gedächtnis, und dass alles ein Gedächtnis habe, das Kristall, das Metall, das Wasser und in geringerem Maße auch der Mensch, der sich nur auf seine löcherige Historie beschränke und es Banditen und Spitzbuben erlaube (solch ein Verhältnis hatte Tischkin zu Politikern! da zeigt sich der ehemalige Bomber!), dem Menschen die wahre Zeit, die Gegenwart , zu klauen, dass es deshalb überhaupt keine Zukunft gebe, weil sie ständig herausgescharrt werde aus der Zeit .
    Des weiteren wurde es nun schwindelerregend unverständlich: Die Zeit wurde einer Art Membrane gleichgesetzt, sozusagen einem Trommelfell, das Töne durchlässt, aber sie nicht wiedergibt.
    Noch interessanter war die Vermutung, dass die Zeit kein Kontinuum sei, sondern diskret, dass sie reiße, gleichsam aufblitze wie eine Girlande dem Auge unsichtbarer Mikroexplosionen, dass überhaupt das alles eine kontinuierliche Katastrophe sei, deren Empfindung uns möglich wäre, die aber vom Bewusstsein nicht erfasst werde.
    Im Anhang gab es dazu eine mathematische Begründung mit ständigen Verweisen auf einen »Forehead« [ 32 ] ; dort versuchte
Tischkin, eine Formel für den Riss als Teil einer allgemeinen Theorie des Brechreizes herzuleiten, da der Versuch, mit der Zeit wie auch mit der Unendlichkeit zu arbeiten, nichts als Brechreiz hervorrufe.
    Wie hätte ich das alles einer Britischen Gesellschaft vorstellen können! Doch zeigte ich den mathematischen Teil der Arbeit einem Bekannten aus dem Klub, einem Mathematiker. 
    Erst lachte er laut, dann runzelte er die Stirn, dann machte er »Hm!«, mal beifällig, mal abfällig, dann schaute er es

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