Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
Vom Netzwerk:
die Hässliche zur Schönheit, der Bettler zum Krösus, der Wollüstling zum Mönch … und umgekehrt. Gleichheit als Vergeltung.‹
    Und so, bald gen Osten, bald gen Westen vom Anblick hingerissen, verpasste er fast den Moment, als die Sonne rascher zu sinken begann. Von hier, aus der Höhe, plattete sie nicht ab, sondern blieb bis zum Ende rund und versank buchstäblich, wie ein Festkörper. Und im Nu – war sie nicht mehr.
    Der Mond hing weiterhin da, als wäre nichts geschehen.
    ›Womöglich sind sie Lesbierinnen?‹ phantasierte Urbino mit kindlich süßer Furcht. ›Marleen die aktive, Lili die passive?‹
    ›Dann hätte ich es leichter …‹, überlegte er sofort eigennützig. Die Idee, Dritter zu sein, vergnügte und beschäftigte ihn eine Zeitlang. Er stellte sie sich zusammen vor, als ob er sie vom Mast aus erblickte, von abseits, wie aus dem Fenster – sie gehen vorbei, die Finger verhakt … zwei Blümchen. Ganz von allein fügte es sich zum Gedicht »Zwei Blumen«:
     
    Ada blond und Raja dunkel,
Freundinnen seit langer Zeit,
Haben, als sie Röcke kaufen,
Gegenseitig sich bestäubt.

Schauen beide in den Spiegel
Nicht der Rock den Blick anzieht,
Lebhaft spiegeln die Gesichter
Wie die Freundin gut aussieht.
     
    ›Merkwürdig‹, dachte Urbino, ›die Verse haben es erraten, nicht ich …‹
    Ja, hier ist alles einfacher, wenn du auf dem Mast sitzt. Allein auf weiter Flur.
    Aber es wurde frisch, dämmrig, auch hatte er nichts, um die Verse aufzuschreiben.
    Es dunkelte schon, als er irgendwie abstieg. Er schloss sich in seiner Kajüte ein, rief sich die Verse ins Gedächtnis und schrieb sie auf. ›Kommt Marleen, überprüfe ich es an ihr.‹ Er wartete auf seinen Mond, wie er zuvor, es schien lange her zu sein, auf die Sonne gewartet hatte. Aber auch Marleen klopfte nicht an.
    Die Zeit zog sich unerträglich in die Länge, er hielt es nicht aus und stieg hinunter zu ihr. Der Mond beleuchtete alles sehr hell. Ihr Schiffsbauch war jedoch verschlossen. Er klopfte, rief – sie reagierte nicht.
     
     
    4. »Bermuda«
    Vergieße Tränen über Phantasiegebilde …
    Alec Cannon [ 42 ]
     
    Aber auch morgens fand er Marleen nirgends.
    Er ging hinaus ans Ufer, um den Sonnenaufgang zu erleben und zu überlegen, was er jetzt tun sollte.
    Die Sonne ging zusammen mit einem näher kommenden Boot auf.
    Er ertappte sich dabei, dass er sich freute, aber nicht, weil
Lili endlich kam, sondern weil sie ihn wenigstens nicht mit Marleen überraschen würde.
    Er erwartete, Midshipman Happenen würde Lili herüberrudern, und was ihn betraf, war er sich seiner sicher.
    Aber nicht, was ihn selbst betraf. Er hatte vor, Standhaftigkeit an den Tag zu legen, aber worin? Nichts weiter.
    Mehr als überrascht war er, als er Lili allein im Boot erblickte, wie sie geschickt zum Ufer ruderte.
    Eine Mischung aus Begeisterung und Furcht hatte ihn gepackt. Das war seine Lili, allerdings mit der Piratenbinde des Midshipman.
    ›Hätte sie auch abnehmen können‹, dachte er verlogenerweise. ›Na ja, sie hat nicht erwartet, dass ich so früh aufstehe.‹
    »Ah, du bist das?« Ihre Stimme klang argwöhnisch und geringschätzig. ›Weibliches Gespür!‹ dachte er entzückt und sagte:
    »Wie meinst du das?«
    »Ganz direkt. Ich habe dir überhaupt nicht gefehlt. Siehst du nicht, wie schwer ich es habe? Hilf ausladen.«
    »Und wo ist der Midshipman?« schnaubte er, unterm Gewicht des Kerosinkanisters ächzend.
    »Ah, Happenen?« Ihre Stimme klang verstört. »Er wollte mich unbedingt herüberrudern, doch ich habe abgelehnt.«
    »Wieso?« Urbino war die Teilnahmslosigkeit selbst.
    »Starke Emotionen sind Marleen jetzt kontraindiziert.«
    »Ach, um Marleen bist du besorgt?«
    »Würden sie ihre Beziehung wieder aufnehmen, käme es hier zu Mord und Totschlag!«
    »So-so, du willst sagen, Happenen« – es war Urbino klar, dass er sich verplapperte, aber er konnte sich nicht bremsen – »sei nicht dein Geliebter, sondern ihrer?!«
    »Aha!« In Lilis Stimme tauchten unüberhörbar drohende Untertöne auf. »Hat sie dir das aufgebunden? Du hast sie also rausgelassen!«
    »Ach was, sie kam von allein.«
    »Von allein??«
    »Sie sagte, sie hätte die Kette durchgebissen. Ich dachte, das
sei ein Scherz von ihr … oder du hättest sie für den Fall des Taifuns rausgelassen, was weiß ich.« Urbino strampelte bereits in der noch unentlarvten Lüge, den allertrübsten Wogen unserer Menschennatur. Und kam wieder hoch:
    »Weißt du, was die

Weitere Kostenlose Bücher