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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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wichtigste Aufgabe unseres Intellekts ist?«
    »Nun?«
    »Die eigene Natur nicht zu kennen.«
    »Heißt das – die Wahrheit? Keine Ausflüchte! Bezieht sich das auf Marleen?«
    »Sie ist schon ein merkwürdiges Mädel …«
    »Merkwürdig? Mädel?« Als hätte sich Lili von der Kette gerissen. »Du hast also geschlafen mit dieser Hure! Wie konntest du nur …« Sie schluchzte.
    Die Tränen waren das wichtigste Argument. Dem hatte Urbino nichts entgegenzusetzen. Er suchte seine Schuld handfest auszubügeln, umarmte, streichelte sie. Sie widersetzte sich unwillig, doch durfte er auf gar keinen Fall ihren Kopf berühren, sie gab ihm eine Ohrfeige.
    »Wofür?!« – das allerschwächste Argument. Im übrigen war auch die Ohrfeige nicht stark gewesen.
    Ihr ein neues Gedicht vorzutragen war der einfachste Ausweg.
     
    Im Traum sah ich die Wahrheit nackend
Bis zum Gesäß hing ihr der Zopf,
Auf einmal war sie eine andre,
Die Zähne fletschend wie ein Wolf.

Diagonal den Schlaf durchschreitend,
Hat nächtens sie mich bald bedroht
Und bald verführt mich, wechselweise,
War schön und war zugleich der Tod.
     
    »Das heißt, ich bin dein Tod?!«
    Die Ähnlichkeit des Tonfalls warf ihn um. Durchs Gehirn zuckte ein Blitz. Es erklang das »Klatschen einer Hand«. Ohr
feige, ist das die Lösung für das Geheimnis dieses Dao? Nun, die Lehrer dort haben es immer praktiziert, die Schüler für ihr Nichtverstehen zu schlagen …
    »Los, nimm diese Midshipman-Kopfbinde ab!«
    »Das ist nicht seine, sondern meine! Ich hab uns dreien genau die gleiche gekauft.«
    »Aha, uns dreien. Und wo ist dann meine?«
    »Für dich hab ich noch keine.«
    »Dann ist die dritte meine. Los, gib her!«
    Lili widersetzte sich. Aber wurde schon schwächer. Schließlich gelang es ihm, sie zu küssen. Die Hand glitt viel zu leicht über das viel zu straff gespannte Tuch, die Hand erriet von allein … und er riss ihr heftig das Tuch herunter! Es war Marleen, bloß ohne alle Schminke. Und es war Lili, aber kahlgeschoren.
    »Wer bist du jetzt? Lili oder Marleen?«
    »Das ist nicht mehr wichtig. Wichtig ist, wer du jetzt bist!«
    »Wer ich war, der bin ich noch …« Urbino murmelte eine Gedichtzeile.
    »Der bist du auch gewesen! Immer nur du allein. Dann bleib auch mit dir allein!«
    »Sprichst du von dir?«
    »Wie, verstellst du dich oder bist du am Ausrasten? Wie, hast du wirklich nicht kapiert, dass wir eins sind?«
    »Ich hatte nie mit echten Zwillingen zu tun. Habe nur gehört, neben äußerer Ähnlichkeit gäbe es bei ihnen auch große innere Nähe, eine Verbindung untereinander, Seelenverwandtschaft, sozusagen, aber ihr seid derart unähnlich … Hör mal, wenn du und Marleen, wenn ihr ein und dieselbe seid, sind wir ja nur zu zweit!«
    »Und wo tust du Marleen hin?«
    »Was für eine Marleen? Jetzt habe ich dich allein. Du meine Lili Marleen!«
    »Das ist ein Lied, kein Mensch. Ich bin hier allein, Marleen nicht gerechnet.«
    »Was denn für eine Marleen?!« Urbino verlor die Geduld.
    »Der Hund natürlich.«
    »Zwei Mann in einem Boot, nicht gerechnet den Hund …« Der Witz kam offenbar nicht an.
    »Lass den Hund da raus.«
    »Also sind wir endgültig zu zweit. Das heißt, wir sind eins, ein Ganzes …«, stotterte Urbino.
    »Wie abscheulich du bist! Als wäre nicht klar, dass wir dir das niemals verzeihen. Ich verzeihe dir Marleen nicht, Marleen verzeiht dir mich nicht, und wir beide verzeihen dir Dika nicht.«
    »Lass Dika da raus! Lass sie, bitte, in Ruhe. Endlich habe ich dich gefunden. Mein Schicksal.«
    »Ein Schicksal, ja, das hast du, kalte, schmutzige Kreatur! Du hast doch nie jemand geliebt … außer deinen miesen Gedichtchen. Du bist ein Mensch, zerrissen in zwei Hälften. Zwischen Himmel und Erde, meinst du? Ach woher! Zwischen Leib und Seele. Du bist die Narbe dazwischen. Tut weh, sagst du? Aber die Narbe selbst tut nicht weh, sie löst nur Schmerz aus. Wie Totes sich doch an Lebendiges klammert! Du bist ein Krüppel, bei dir stimmt was nicht mit der Liebe.«
    »Was hast du mich dann verführt, wenn ich so schlecht bin?«
    »Ich? verführt? Nie im Leben! Keinen Finger hab ich krumm gemacht … Oh, hätte ich, wenigstens das! Wär ja mal was gewesen für mich. Auch für dich. Aber nein, du bist gleich drauflos … Einen solchen Jammerlappen hab ich mein Lebtag nicht gesehen!«
    »Was du alles gesehen hast!« parierte Urbino, nicht ohne Eifersucht.
    »Was ich gesehen habe, ist mein. Trotzdem, ich hoffte. Dermaßen hat mir

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