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Der Symmetrielehrer

Der Symmetrielehrer

Titel: Der Symmetrielehrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Bitow
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ihr gewidmet hast.«
    »Welche von den beiden?«
    »Was, du hast ihr zwei gewidmet?!«
    »Aber ja. Im übrigen konntest du die eine gar nicht hören.«
    »Also ist sie ebenfalls grässlich.«
     
    Es war seltsam – obwohl er immer mehr Sehnsucht hatte nach Lili, ertappte er sich dabei, dass er es immer vergnüglicher fand mit Marleen. Unkomplizierter, natürlicher. Als ob sie nicht ihre Schwester wäre, sondern seine. ›Ich bemühe mich nicht zu gefallen‹, erkannte er.
    »Hätte ich eine Schwester und nicht einen Bruder, wieviel leichter hätte ich es im Leben«, sagte er.
    »Hätte ich einen Bruder …«, seufzte Marleen. »Wenigstens einen wie dich.«
    »Was würdest du mit ihm machen?«
    »Wenigstens trinken …«
    »Ja, da bin ich dir eine Freundin«, stimmte Urbino zu.
    »Noch ein letztes Gläschen, und ab in die Heia!« verfügte Marleen.
    Was weiter geschehen war, begriff er nicht. Begriff nicht – oder erinnerte sich nicht?
    »Das ist ja bloß meine Variation … die OUVERTÜRE  … meine Variation zu einem Thema der ›Zauberflöten‹-Ouvertüre … nein, Mozart, das sind nur Pralinen, Schokolädchen mit Porträt … aber das nun ist meine Flöte … ich bin ja bloß Interpretin …«
    »Eine Virtuosin bist du!« rief der begeisterte Urbino. »Ich verneige mich vor deiner Interpretation!«
    Und tatsächlich, allein vom leichten Druck ihres Fingers ging er in die Knie.
    »Und jetzt Wagner! Welche Overtüre interpretierst du? Komm, ›Rheingold‹ … nein, besser ›Ring des Nibelungen‹ … Oh! Ja, so!«
    »Hör mal, wieso rasierst du dich?«
    »Damit du mein Tattoo siehst! Jetzt bin ich dran: ›Die Walküre‹!!«
    Und sie stülpte ihm ihr Tattoo über die Augen.
    Und er sah nichts mehr – er versank.
    Der Schoß, der ihn einst hervorgebracht hatte, verschlang ihn nun mit Macht.
    Es war dies etwas, entsprechend oder entgegengesetzt, wie die Geburt, woran die Erinnerung wohl so tief und unerinnerbar verborgen lag, dass man nur so dazu vordringen konnte. »Mama, gebär mich zurück!« – was ist das doch im Grunde ein gar nicht kindlicher Scherz! Man musste dahinschwinden, sich vom Verstand entbinden, sich als Säugling wiederfinden … nein, noch kleiner (was ist größer, Mikrobe oder Spermatozoid?), um endlich verschlungen zu sein, verschluckt von der Liebe!
    »Und jetzt – ›Götterdämmerung‹«, schrie Marleen, völlig von Sinnen. »Zusammen!!«
    Erst verklangen die Streicher, dann ging auch den Bläsern die Luft aus, es blieben nur die Pauken.
    Urbino verirrte sich, verhedderte sich in diesen Kulissen, er schob diese Stores und Vorhänge auseinander – ein Theater, in dem gerade erst eine Feuersbrunst gelöscht worden war.
    »Wie singen in den Restaurants die Zigeuner?« murmelte er abgeschlafft. »›Küss du mich, dann küss ich dich, dann küssen wir uns beide …‹ Was meinen sie? Etwa das?«
    »Das weißt du nicht? Was denn sonst?« sagte Marleen mit tiefer Zigeunerstimme.
     
    Sie griff ständig an, doch im Endeffekt schmeichelte sie ihm.
    »Jetzt begreife ich, wie du auf die Weiber einwirkst, so dass sie nicht von dir loskommen. Du gibst dir immer den Anschein,
als ginge nichts von dir aus, als wären das nur sie. Und da ist es um sie geschehen, die Ärmsten …«
    Urbino war allmählich ernsthaft beleidigt. Nein, sie hatte nicht recht! Mit Lili war es anders. Da war es sein Wille gewesen, nicht ihrer. Niemals würde er auf Lili verzichten, seine allerletzte Wahl!
    Auf einem Strauch begann ein Vogel zu singen, daneben saß schweigend und abgewandt ein zweiter. Etwas reimte sich in Urbinos Gehirn, und er konnte sich nicht zurückhalten, sprach es laut aus:
    »Wovon singen sie?«
    »Es singt einer. Sie singt, er schweigt.«
    »Das gibt es nicht. Es singt immer das Männchen!«
    »Dann sing!«
    »Kann ich nicht.«
    »Siehst du. Also singt das Weibchen.«
    »Wovon?«
    »Vögeln will sie, darum singt sie«, beschied Marleen ihn grob, und mit derselben tiefen Stimme hob sie in einer unverständlichen Sprache an:
     
    Milenki ty moi,
Wosmi menja s soboi!
Tam w kraju daljokom
Nasowjosch menja schenoi!
     
    Merkwürdigerweise drehte es ihm das Herz im Leib herum. Die Gedanken an Lili und Dika, an Dika und Lili verschmolzen und wogten auf, zusammen mit der Melodie.
    »Hast du das bei den Zigeunern gelernt?«
    »Das hat dir Lili ausgeplaudert!« zischte Marleen durch die Zähne, um gleich zu sticheln: »Wenn das nicht meine Leidenschaft wär, mich erregen die Sanften und

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